Er hat als Kind in Uganda jahrelang auf der Straße gelebt, er hat Misshandlungen erlebt und Not. "In der ganzen Zeit hatte ich aber nie das Gefühl, dass mir etwas fehlte oder dass ich Probleme hätte", schreibt James Tugume. Nie hatte er Angst, nie hatte er Unfälle: "Für mich war das mein normales Leben." Seinen ersten Unfall hatte Tugume direkt nach der Ankunft in Deutschland, im Jahr 2014: Gerade erst angekommen, übersah er eine große Glastür. Und verletzte sich grässlich.
Nicht immer im Leben werden Erwartungen erfüllt, und beim Lesen ist das nicht anders. Auf den gut komponierten Sammelband "Wir sind hier" (Allitera) jedenfalls trifft es wirklich zu. Denn nicht nur von jemandem wie James Tugume erwartet man ja eine bestimmte Geschichte, eine bestimmte Haltung - die dann nicht kommt. Und wenn ein Band, wie hier der Untertitel verheißt, "Geschichten über das Ankommen" versammelt, dann denkt man erst einmal ausschließlich an Geschichten von Irakern, Syrerinnen, Ugandern, die über ihre Trauer, ihre Traumata und Flüchtlingsunterkünfte schreiben.
Und natürlich sind unter den 38 Texten internationaler Autoren, die dieser Band zusammenführt, solche auch zu finden. Sie sind mitunter sehr berührend; eine tragische Geschichte wie die vom syrischen Autor Fady Jomar zum Beispiel lässt wohl niemanden kalt; sie handelt vom nie genehmigten Familiennachzug, bis schließlich der Sohn in Aleppo umkommt. Zu finden sind in diesem Band, der mehr und weniger literarische Texte vereint, auch Gedichte des Syrers Yamen Hussein, der von München kürzlich nach Leipzig gezogen ist, Texte von Galal Alahmadi aus dem Jemen, von Ayeda Alavie aus dem Iran und vielen mehr. Einige der Texte sind im Rahmen der Initiative "Wir machen das" der in Berlin lebenden Schriftstellerin Annika Reich entstanden sowie der kooperierenden Münchner Reihe "Meet your neighbours".
Diese Reihe war im Februar in das kleine Festival "Acht Mal Ankommen" in der Monacensia gemündet; nun haben die Münchner Autoren und Organisatoren Katja Huber, Silke Kleemann und Fridolin Schley als Nachklapp das Buch "Wir sind hier" herausgegeben. An diesem Dienstag stellen sie es mit Musik und Lesungen von James Tugume, Banu Acun und vielen anderen in der Monacensia vor. Und wer sich für das Thema interessiert, kann sich auch gleich noch einen weiteren Termin vormerken: Beim Forum:Autoren des Literaturfests wird Annika Reich mit Autoren wie Ramy Al-Asheq den Abend "Immer weiter: leben und schreiben" gestalten, am 22. November im Ampere.
Ein Text von Annika Reich, neben Beiträgen von Schley, Kleemann oder Friedrich Ani, ist auch im Band "Wir sind hier" abgedruckt. Denn um nun endlich ausführlicher zu erklären, warum dieses Buch Erwartungen zuwiderläuft: Nicht nur Neuankömmlinge in der deutschen Gesellschaft kommen hier zu Wort, sondern auch einheimische Stimmen. Es ist eine sehr zeitgemäße Mischung aus unterschiedlichen Perspektiven; es geht darum, den Blick nach außen wie nach innen zu wenden. Auch wenn den Herausgebern klar ist, dass dieses konzeptionelle Nebeneinander auf den ersten Blick "unerhört" wirken kann: "Vermischt es nicht Luxusprobleme der einen mit den existenziellsten Nöten anderer?"
Dass es im Gegenteil nicht nur interessant, sondern wichtig ist, die eigene Perspektive mitzudenken, zeigt zum Beispiel Reichs Beitrag. "So wie Integration das falsche Konzept ist, weil es nur von einer Richtung aus denkt, so ist auch Ankommen, wenn es nur das (Nicht-)Ankommen der anderen denkt, falsch", schreibt sie. Schließlich gehe es auch darum, als vermeintlich weltoffene Europäerin eigene blinde Flecken zu entdecken: "Ich habe meine Privilegien nur hinterfragt, aber nie von ihnen abgesehen". Reich hat für sich den Schluss gezogen, Verantwortung zu übernehmen und zu handeln. "Performative Citizenship" nennt sie das. Einfacher gesagt: "Es liegt nun an mir selbst."
Wir sind hier ; Buchpremiere, Dienstag, 6. November, 19 Uhr, Monacensia, Maria-Theresia-Str. 23, Eintritt frei