Literatur:Heimatsplitter

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Das "Deutschland-Heft" der Zeitschrift "Krachkultur"

Von Jürgen Moises, München

Was ist nur mit uns Deutschen los? "Es geht uns de facto so gut wie nie zuvor, keiner hat einen persönlichen Punkt zu klagen, aber gefühlt geht es so schlecht wie seit Jahrzehnten nicht mehr." So diagnostiziert jedenfalls der Schriftsteller Matthias Politycki die Lage, in seinem Aufsatz "Bleibt ja unter uns", der in der Krachkultur zu lesen ist. "Das Deutschland-Heft" nennt sich die 19. Ausgabe der Münchner Literaturzeitschrift, was heißt, dass die Herausgeber Martin Brinkmann und Alexander Behrmann darin eine ganze Reihe von literarischen und essayistischen Bestandsaufnahmen zu "einem ideologisch kontaminierten Thema" zusammenführen. Darüber stehen bekannte Namen wie Oskar Maria Graf, Lutz Seiler oder Tanja Dückers, aber auch von einigen Neulingen, wie es sich für eine gute Krachkultur-Ausgabe gehört.

Matthias Polityckis Text steht am Schluss und spürt den Veränderungen nach, die er als Schriftsteller und Vielreisender in seiner Heimat wahrnimmt. Man könnte auch sagen: Er ist ein Zeugnis der Entfremdung, von einem, der sich "in einem harten Kontinent wie Afrika" inzwischen wohler fühlt als hier. Wieso? Wegen der neuen Tugendwächter in Europa. Der "neuen Gefühlslinken", die den Diskurs in Deutschland dominieren. Der geistigen Lähmung und Erschöpfung. Und wegen des Zerfalls in immer mehr kleine Parallelwelten, in denen jeder seine eigenen, gefühlten Wahrheiten gebiert.

Politycki spricht hier als enttäuschter Linker, der die offenere Debattenkultur von früher vermisst und als Lösung "immer mal wieder abreisen" vorschlägt. Weil Reisen immun gegen Ideologien mache. Das klingt wie so einiges in seinem Aufsatz überlegenswert. Sein Fazit, dass Deutschland vor 2000 "ein freieres Land" war, "jedenfalls für den heterosexuellen Mainstream der Bevölkerung", klingt dann aber doch ein bisschen nach dem klassischen "früher war alles besser". Und eine ganze Nation in den Flieger zu setzen, wird sicher nicht alle Probleme lösen, sondern eher vielleicht noch neue generieren.

Dass Reisen zu neuen Ansichten über die Welt und über das eigene Dasein führen kann, sieht auch die Journalistin Tina Uebel so, die persönliche Reisetagebuchnotizen beisteuert. Wie Politycki kennt sie das Glück und Privileg des Reisens, aber auch das zunehmende Gefühl, ein "Expat im eigenen Land" zu sein. Man könnte auch sagen: Ein Exilant wie Oskar Maria Graf. Der kam 1958 nach 20 Jahren im US-Exil mit dem Wunsch nach Aufarbeitung und Versöhnung nach Deutschland, und landete in einem "Als wär nie was gewesen"-Wirtschaftswunderland, das ökonomisch stabilisiert war, aber moralisch still stand. Warum dem Schriftsteller Deutschland keine Heimat mehr werden konnte, lässt sich aus den zwei Briefen an Anni Olschewski erahnen, die in der Krachkultur erstmals gedruckt und kommentiert sind.

Ein weiterer historischer, wieder aufgefundener Text stammt vom Schriftsteller Paul Scheerbart. In dem Aufsatz "Das Kreuz als Symbol" von 1891 zeigt er dessen lange, universelle Tradition auf. Was wiederum Detlef Thiel in seinem Kommentar dazu veranlasst, sich in einem ironischen Schlenker beim Bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder zu bedanken: weil er sich für dieses uralte, kulturübergreifende Symbol so einsetzt.

Chi Dung Ngo, der vor 40 Jahren hierher kam, schildert, wie er bei einem Besuch in seinem Herkunftsland Vietnam Heimweh nach Deutschland hatte. Und die in Japan geborene, in München lebende Miki Sakamoto erzählt von ihrer enttäuschenden Erfahrung, dass die Waldliebe der Deutschen nur ein Mythos ist. Nicht nur enttäuscht, sondern wütend hat Fritz Hendrick Melle eine andere, ostdeutsche Erkenntnis gemacht. Nämlich die, dass man ihn in der DDR zum Revolutionär erzogen hatte, dort "aber Revolution verboten war".

Von Rebellion, von Freiheit wiederum träumt ein stets "verlässlicher" Ehemann in Peter Hennings Kurzgeschichte "Der gute Deutsche". Ein Traum vom Ausbruch aus der Alltagsrolle, wie er schon oft und zugegeben schon spannender erzählt wurde. Ähnliches gilt für Tanja Dückers Geschichte "Das Fest", wo eine Liebe beinahe an den unterschiedlichen Herkunftsmilieus scheitert. Länger wirken da die emotionalen Schieflagen nach, die im Romanauszug von Michael Weins eine deutsch-chilenische Adoption zu Tage fördert. Oder der Mehrgenerationenkonflikt und die missglückte Kindheit, von denen Abbygail Fuhls erzählt.

Szenische Schlaglichter wirft Thorsten Nagelschmidt in seiner "Reise durch die Republik in 28 Gedichten" auf Deutschland, und in Stan Lafleurs Versen leben noch einmal die Sommer seiner Jugend auf. Der Deutsche Buchpreisträger Lutz Seiler gibt in einem Prosatext am Wahltag seine Zunge mitsamt seiner Stimme ab und wandelt in einem Gedicht durchs technische Museum. Auch das sind eher Splitter, Wahrnehmungsfragmente, keine Analysen, die Antworten auf "deutsche" Fragen geben. Aber genauso wie neue Eindrücke und Erfahrungen beim Reisen können auch sie dazu verleiten, die eigene Wahrnehmung neu zu justieren.

Krachkultur Nr. 19/2018 ; erhältlich online unter: www.krachkultur.de oder im Buchhandel

© SZ vom 11.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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