Literatur:Gesammeltes Werk

Wie das Publikum an einem Roman mitschreibt

Von Yvonne Poppek

Die Geschichte musste am Innsbrucker Ring beginnen. Zumindest lässt sich erahnen, woher die Idee für diesen Anfangsort kommt. "Innsbrucker Ring" ist auf der U-Bahn-Anschlagtafel zu lesen, die im "Bahnwärter Thiel" hängt. Die ausrangierte Tafel vermittelt den nostalgischen, abgeschrammelten Charme dieser Spielstätte auf dem ehemaligen Viehbahnhof, der sich auch an den vielen alten Lampenschirmen verfängt. Genauso abgeschrammelt steht der namenlose Held am Anfang der Geschichte morgens um fünf Uhr am Innsbrucker Ring und friert.

Das mit dem Frieren, dem abgerissenem Zustand und dem "Innsbrucker Ring" ist für das Publikum am Dienstagabend im "Bahnwärter Thiel" also unmittelbar nachvollziehbar. Rund 30 Menschen sitzen vor der kleinen Bühne, um dabei zu sein, wenn die Geschichte um den einsamen Protagonisten weitergestrickt wird. "Eine unendliche Geschichte" heißt das Projekt, das das Künstler-Kollektiv "Konvolut" im Februar gestartet hat (www.konvolut.org). Es ist die Idee, gemeinsam mit einem Publikum einen Fortsetzungsroman zu schreiben und sich von Monat zu Monat kapitelweise vorzuarbeiten. Zwei Kapitel sind bereits entstanden, die Impulse für das dritte sollen an diesem Abend gesammelt werden.

Doch bevor es um die "Unendliche Geschichte" geht, gehört die Bühne der Münchner Autorin Lena Gorelik. "Konvolut" hat sie eingeladen, um aus ihrem Jugendroman "Mehr Schwarz als Lila" zu lesen. "Wir haben im ersten Teil immer eine Autorin oder einen Autoren, auf die wir total abfahren", sagt Mitinitiator Marco Böhlandt. Abfahren kann das Publikum dann wiederum auf die ganz andere Art der Lesung, von der auch die Autorin sagt, dass sie sich darauf freue. Es ist eine Lesung zu zweit: Im Wechsel sind Gorelik und die Schauspielerin und Konvolut-Initiatorin Katharina Neudorfer an der Reihe, Textpassagen vorzutragen. Dazu werden Fotos an die Wand projiziert - Teenies beim Feiern, Sonnenuntergang, Plattencover, alles wild durcheinander und ohne Bezug zum Buch. Hinzu kommen Soundwolken, ein Prinzip, mit dem "Konvolut" seit einiger Zeit operiert - eine Anleihe vom Film, Emotionen über die Musik zu wecken. Sie funktioniert einwandfrei, insbesondere bei Goreliks Roman, der sich so nah an den Herztönen der Teenager entlangarbeitet.

Für die "Unendliche Geschichte" ist der Sound dann ein Vorteil, wertet es doch den noch ziellos mäandernden Text auf, dessen zweites Kapitel Neudorfer vorliest. Derzeit besteht er aus zwei Teilen: Ein Teil kreist um den namenlosen Protagonisten der in München im Nachlass eines Freundes einen Karton mit einem Briefwechsel und einem Romanfragment findet. Der zweite Teil ist eine Geschichte in der Geschichte: Der Protagonist schreibt das Fragment fort, das von zwei Gangstern handelt, die Touristen ausnehmen.

Was das Publikum bislang beigesteuert hat - Sätze, manchmal Passagen, die sie nach der Lesung auf Zetteln notieren - ist in die "Unendliche Geschichte" eingeflossen. Allzu Abwegiges - etwa Ideen, die mit Aliens zu tun haben - verbannen die Kollektiv-Autoren gerne in eine Traumebene. Dadurch taucht einiges auf, was der Roman nicht zu brauchen scheint. Welche Vorgaben nun entstanden sind und wie sie sich instrumentalisieren lassen, wird sich bei der nächsten Lesung im Mai zeigen. Es ist noch als sehr offen zu betrachten, wohin die Reise geht.

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