Süddeutsche Zeitung

Literatur:Ein reizbarer Held

Die große Rache eines Ausgestoßenen: Jean Prévosts Roman "Das Salz in der Wunde" ist ein moderner Klassiker der französischen Literatur. Jetzt wurde er erstmals ins Deutsche übersetzt.

Von Ina Hartwig

Es sagt einiges über den in Deutschland so gut wie unbekannten Jean Prévost, dass sein erstes, 1925 veröffentlichtes Buch "Plaisirs des sports" heißt, übersetzbar etwa mit "Vergnügen (oder auch: Genüsse) des Sports", im Untertitel: "Essais sur le corps humain", also "Versuche über den menschlichen Körper". Man kann wohl sagen: Dieser Autor, geboren 1901 in der französischen Provinz, und 1944 als Mitglied der Résistance in den französischen Alpen von deutschen Besatzern erschossen, war ein Körpermensch. Er schrieb nicht nur über Sport, er spielte selbst Fußball und Rugby, fuhr Kajak, und er boxte, zum Beispiel einmal gegen den verehrten Hemingway, dem der stürmische Franzose einen Finger brach: Dieses Detail hat dem Manesse-Verlag, in dem jetzt Prévosts Roman "Das Salz in der Wunde" aus dem Jahr 1934 in deutscher Erstübersetzung erscheint, so gut gefallen, dass es Eingang in die biografische Notiz des Klappentexts gefunden hat.

Ja, auch dieser Roman (im Original "Le sel sur la plaie") trägt Züge physischer Wucht. Der Held, wenn man ihn denn so nennen möchte, heißt Dieudonné Crouzon; der Vorname belegt seine Herkunft aus nicht gerade bürgerlichen Verhältnissen. Tatsächlich ist er ein Waisenjunge, der nie unbeschwert jung sein konnte. Dafür ist er mit enormer Intelligenz geschlagen; er schafft es auf die Eliteschmiede École normale supérieure; als Jura-Student hat er drei Doktorarbeiten für reiche Freunde in Paris verfasst, die eigene Dissertation halb fertig in der Schublade, und so erhofft er sich eine hübsche Karriere. Doch seine ungezügelte körperliche Energie macht ihm einen Strich durch die Rechnung

Mit einem Schlag geht es los. Ein Freund Crouzons beschuldigt ihn, seine Brieftasche geklaut zu haben; und anstatt in Ruhe darauf zu setzen, dass sich alles aufklären werde, da Crouzon unschuldig ist, stößt er dem Freund, einem betuchten Bürgersohn, seinen Kopf ins Gesicht. Er wird hinausgeworfen, von den Pariser Kumpanen verstoßen, und flieht in ein Nest im Département Indre mit dem fast herrschaftlich klingenden Namen Châteauroux. Doch der Name trügt: Hier ist das Reich derer, die ihr Mobiliar mit Schutzhüllen bedecken, um es zu schonen: tiefste Provinz also. Für einen nervösen, energischen "Normalien" wie Crouzon eine echte Herausforderung.

Der Typus des Karrieristen ist in der Erzählwelt Frankreichs seit Balzac bestens bekannt

Aber was heißt Normalien? Dieudonné Crouzon, und das ist sein Hauptcharakteristikum, hat gar keinen sozialen Anker. Ihm fehlt das gute Elternhaus und damit jene schlafwandlerische Sicherheit, die anderen auch bei fehlender Begabung im Leben die feinsten Pöstchen einbringt. Ganz am Ende des Romans, als Crouzon, reich geworden und glücklich verheiratet, sich endlich an den alten Weggefährten für die Demütigung des Verstoßenwerdens rächen kann, fällt das Wort vom Parvenü. Überraschenderweise ist es keineswegs negativ gemeint.

Die Handlung umfasst die Jahre 1925 bis 1929. Gleich mehrere Romane stecken in "Das Salz in der Wunde": der Roman der Provinz, der Wirtschaft, der Technik und der Medien, der Psychologie, der Politik, des Klassendünkels. Und, nicht zuletzt: der Liebe. "Das allgemeine Wahlrecht und die Eisenbahn haben Balzac auf den Kopf gestellt. Heutzutage verlässt man Paris, um in der Provinz sein Glück zu machen", spricht ironisch, aber nicht boshaft, der einzige verbliebene Freund Crouzons aus seiner Studienzeit. Der heißt Boutin und kann wohl als die sympathischste Nebenfigur gelten, oder besser gesagt, als die einzige überhaupt sympathische Figur des gesamten Romans; ein schüchterner Literaturdozent, weiser Ratgeber, ohne Ehrgeiz, was ihn von Crouzon radikal unterscheidet. Er ist es, der seinem unglücklichen Freund den Job in Châteauroux vermittelt.

Crouzon, ein Getriebener, der zwischen Wut und Erschöpfung wankt, ist wild entschlossen, die Provinzstadt zu erobern, und er macht - fast - alles richtig. Er bewährt sich als Redakteur einer republikanischen Zeitung, wechselt dann zur konservativen Konkurrenz, wird schließlich selbst Verleger eines Almanachs, kauft eine Druckerei, wirbt der Konkurrenz erfolgreich Kunden ab, druckt Plakate, Werbung, Anzeigen, dazu Fortsetzungsromane, deren Rechte frei verfügbar sind (Boutin als stets einfallsreicher Berater im Hintergrund), mischt sich in den kommunalen Wahlkampf ein, verwechselt Geschäft und Politik, lernt aus seinen Fehlern, kann jeden Rückfall mit unermüdlichem Arbeitseinsatz wieder wettmachen und in einen nächsten Erfolg verwandeln.

Sein "Käseblatt", wie er weiß, profitiert von der aufkommenden Kinowerbung. Später eröffnet er einen Laden für Radio- und Telefonie (nur nebenbei: Marcel Proust war Abonnent des sogenannten Théâtrophon, womit er Opernaufführungen am Telefon verfolgen konnte). Und als Crouzon bereits Millionär ist, von der sich ankündigenden Wirtschaftskrise sogar profitierend, da stürzt er sich in die nächste Geschäftsidee. Er geht zurück nach Paris und eröffnet nicht etwa ein Restaurant, sondern gleich mehrere, und auch das klappt bestens. Ein echter Aufsteiger, der in der französischen Literatur als Figur gut eingeführt ist.

Prévost hatte über Stendhal promoviert und als Journalist gearbeitet; er war Mitarbeiter verschiedener literarischer Zeitschriften, darunter der legendären Nouvelle Revue Française, und hat an die dreißig Bücher verfasst, bevor er mit nur 43 Jahren heldenhaft starb. Sogar als sozialistischer Wahlhelfer hat sich der überzeugte Republikaner und spätere Widerstandskämpfer eingesetzt. Anders als Crouzon hat er sich jedoch nicht zum Abgeordneten wählen lassen. André Gide mochte ihn nicht, wie ein Tagebucheintrag belegt: "Unerträgliche Manie Jean Prévosts, immer intelligenter, gebildeter, ausgewogener oder was auch immer scheinen zu wollen als jener, über den er gerade spricht - und sei es Pascal, Descartes oder Dostojewski."

Leseprobe

Einen Auszug aus dem Roman stellt der Verlag hier zur Verfügung.

Das Buch besticht weniger durch stilistische Bravour als durch Figurenzeichnung

Sein Biograf Jérôme Garcin nannte Prévost einen "brillanten Alleskönner", dessen Bücher eben deshalb keine Meisterwerke seien. Zugegeben, da ist etwas dran. "Das Salz in der Wunde" besticht wirklich nicht durch literarische Meisterschaft, manche Wendungen wirken arg konventionell. Dennoch, die Menschenkenntnis dieses Autors, die psychologische Gestaltung seines durch und durch ambivalenten Helden, der sich selbst nicht respektiert, und, vor allem, die bedrückende, dann in unerwartetes Glück umschlagende Liebesgeschichte zwischen Crouzon und Anne-Marie; ein seltsames Glück vor dem Hintergrund der niederdrückenden Geistlosigkeit der Provinz, das hat schon was.

Dieses Mädchen von kalter, undurchschaubarer Schönheit lernt Crouzon bei Madame Rougeau kennen. Sie, deren Mann in Marokko seinen Geschäften nachgeht, wird zur Vertrauten des übermüdeten, mit sich selbst hadernden jungen Mannes. Bei Madame Rougeau lernt er deren Nichte kennen, jene Anne-Marie, die Crouzon auf der Stelle in Bann schlägt. Alle Welt scheint zu wissen, dass sie ein Verhältnis mit ihrem Cousin hat, was die junge Frau in den Augen der Kleinstadt "entehrt". Crouzon trägt dem "gefallenen Mädchen" die Ehe an, um sie zu schützen. Sie nimmt an; und die Hochzeitsnacht, die traurigste, die je geschildert wurde, besteht nur aus Tränen und Ausweichmanövern. Nichts deutet darauf hin, dass aus dieser Ehe, die lange keine ist, eines Tages die geheimnisvolle Komplizenschaft zweier Liebender wird; nichts deutet darauf hin, dass Crouzon und Anne-Marie einander zutiefst vertrauen werden, nichts darauf, dass sie ihre Körper - die sich geschwisterlich ähneln - gegenseitig erobern.

"Hass und Geduld" heißt ein Kapitel, es könnte als Motto dieser ungewöhnlichen Liebe gelten. Denn Hass hat Crouzon genug in sich angehäuft. Und dieser Hass macht ihn einerseits angstlos, andererseits böse und berechnend, und es dauert, bis Anne-Marie seine unterdrückte, ihr gegenüber zurückgehaltene Kraft entdeckt: Dann und erst dann, finden sie zusammen. "Du musst in der Lage sein, mich zu töten", sagt Crouzon, als er ihr eine "schöne Pistole" zum Geschenk macht. Diese Liebesgeschichte überstrahlt die Hässlichkeit seiner Rache mit einer herrlichen, fast kriminell sinnlichen Scheulosigkeit.

Jean Prévost: Das Salz in der Wunde. Roman. Aus dem Französischen von Patricia Klobusiczky. Manesse Verlag, Zürich 2015. 273 Seiten, 24,95 Euro. E-Book 19,99 Euro.

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Quelle:
SZ vom 20.07.2015
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