Literatur:Diesem Mann ist nicht beizukommen

Heute feiert Marcel Reich-Ranicki seinen fünfundachtzigsten Geburtstag

Thomas Steinfeld

Berühmt, weit über die Kreise des literarisch interessierten Publikums hinaus, wurde Marcel Reich-Ranicki als Schauspieler. Die Rolle, die ihn berühmt machte, ist die des lesenden Menschen. Gewiss, niemand zweifelt daran, dass er tatsächlich las, auch lange und gründlich.

Reich-Ranicki

Feiert seinen 85. Geburtstag: Marrcel Reich-Ranicki

(Foto: Foto: dpa)

Er kennt sich aus in der Dichtung, vor allem in der deutschen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts. Und doch ist da etwas anderes, das seine Kenntnisse und sein literaturkritisches Urteil hinaustreibt auf die große Bühne - wo er dann sitzt, um wie aus tiefer Lektüre aufzuschauen und spielend zu sein, was in seinem Publikum keiner ist und auch keiner mehr werden wird: ein Lektürewesen.

Den Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki gibt es schon seit längerem nicht mehr. In den neunziger Jahren, als er mit dem "Literarischen Quartett" zum mit Abstand mächtigsten Rezensenten der Republik geworden war, löste sich ein neuer, anderer Marcel Reich-Ranicki aus dem Kritiker: der Autor der eigenen Lebensgeschichte.

Geschichte eines polnischen Juden

Autor war er zwar schon zuvor gewesen, aber nur unter anderem, ein Autor von Anthologien, nicht zuletzt der eigenen Rezensionen, Schriftstellerporträts und Reflexionen auf die Literaturkritik - doch zuerst war er Rezensent, anfangs der Zeit als freier Mitarbeiter verbunden, dann siebzehn Jahre lang Literaturredakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

Nun aber war er der Autor eines autobiografischen Bestsellers. Dieses Buch ließ ihn persönlich unbelangbar werden. Denn es geht darin um die Geschichte eines polnischen Juden, der, in einer unglaublichen Verkettung glücklicher Umstände, dem Warschauer Ghetto und dem Holocaust entkommen war und die deutsche Literatur zu seinem "portativen Vaterland" gemacht hatte.

Diesem Mann ist nicht beizukommen

Ein gewisses Maß an Unbelangbarkeit gehört zur Kritik. Sie muss frei sein, gegenüber den Schriftstellern, den Verlagen, den Kollegen - ja, sogar gegenüber den Lesern.

Marcel Reich-Ranicki war in diesem Sinne stets ein unabhängiger Kritiker. Und in dem Maße, in dem sein Ruhm wuchs, wurde er zu einem sehr unabhängigen, zu einem, der Martin Walser in die heftigsten Wechselbäder von Lob und Kritik stürzen konnte, ohne dass dessen Romane dabei von wesentlich anderer Qualität gewesen wären, zu einem, der Günter Grass, ohne dass dieser sich geändert hätte, von einem Buch zum anderen zu einem unlesbaren Autor erklären durfte.

Unberechenbarkeit des Urteils

Dass Marcel Reich-Ranicki solche Urteile fällen konnte, und wie er es tat, offenbart, dass dieser Kritiker sich anschickte, für weite Teile des Publikums ein interessanterer Gegenstand zu werden als die von ihm rezensierten Bücher.

Als im August 1995 der Verriss von Grass' Roman "Ein weites Feld" erschien, begann die institutionelle Freiheit des Kritikers Marcel Reich-Ranicki dabei in etwas absolut Persönliches umzuschlagen. Die Erinnerungen "Mein Leben" ratifizierten im Jahr 1999 diesen Umschlag.

Zu diesen Fragmenten einer Lebensgeschichte erschienen zahllose biografische Würdigungen, aber keine behandelte das Buch wie einen Gegenstand der Literaturkritik. Seitdem ist Marcel Reich-Ranicki, was immer er in die Welt setzen mag, vollends unbelangbar geworden.

Vorliebe gilt dem Erzählen

Es ist immer schon wenig ergiebig gewesen, die literarischen Urteile Marcel Reich-Ranickis ihrerseits einer Kritik zu unterziehen.

Es ist liegt alles offen dar: die Vorliebe für realistische Prosa, die Neigung zu deftigen Stoffen, die von glanzlosen Passagen ebenso wie von glänzenden Pointen geprägte Sprache, in der diese Urteile gefällt werden, die lebenslange Vorliebe für Kriterien der Literaturkritik, wie sie Georg Lukács, der marxistische Literaturkritiker mit dem bürgerlichem Geschmack, in den dreißiger Jahren systematisch formuliert hatte.

Die große Vorliebe gilt dem Erzählen, das über die Zeit trägt, dem großen Strom, der sich erstreckt von der klassischen Prosa Goethes über die Gesellschaftsromane des neunzehnten Jahrhunderts, nicht zuletzt die russischen bis zu ihren Erben. In den Vereinigten Staaten des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts fließt er noch immer. Im Zweifelsfall ist Marcel Reich-Ranicki das Lob für einen zweitrangigen Autor der wiedererkennbaren Welt lieber als ein Zugeständnis an die Dunklen, Rätselhaften.

Aber nicht einmal, wenn sich Marcel Reich-Ranicki irrt, sollte man sich aufregen, etwa darüber, dass er aus Robert Musil einen psychisch verwirrten, sich in endlosen Versuchen erschöpfenden "Meister der Stilblüte" machte, während er "Mein Herz so weiß", den schlichten Salonroman von Javier Marías, zu einem grandiosen Erfolg werden ließ.

Nein, die eigentliche Leistung von Marcel Reich-Ranicki bleibt die Unberechenbarkeit des Urteils. Was ihn auszeichnet, ist Entschiedenheit, Rücksichtslosigkeit und auch kontrollierte Willkür. Er selbst würde wohl eher von Leidenschaft reden. Gemeint ist dasselbe: Er ist zur Ikone des temperamentvollen Kritikers geworden, zu einem Rhetor, der aller Begründungspflichten enthoben ist, wenn er, in Gestik und Physiognomie mehr oder minder angewidert, ausruft: "Ich habe mich gelangweilt." Als ob die Erfahrung nur langsam vergehender Zeit das Schlimmste wäre, was einem Leser zustoßen kann.

Diesem Mann ist nicht beizukommen

Mit dieser Leidenschaft hat es eine besondere Bewandtnis. Sie ist das Argument, das alle Argumente überflüssig macht, das subjektive Prinzip, nach dem einige Werke herausgegriffen, zu Glanz, Glück und Ruhm erhoben werden, während alle anderen im Dunkel des Vergessens verschwinden müssen.

Man mag darin einen Überlebenseffekt erkennen, wie auch in Marcel Reich-Ranickis radikaler Vorliebe für das "Erzählen" das Motiv der Scheherezade weitergesponnen zu sein scheint - in den Erinnerungen jedenfalls rettet ihm das Nacherzählen der bedeutendsten Werke aus der Literaturgeschichte das Leben.

In dieser Leidenschaft steckt aber leider auch ein höchstens halb verborgener Dogmatismus. Dieser Dogmatismus ist willkommen bei einem großen, in seinen ästhetischen Maßstäben höchst unsicheren Publikum, das es auch goutiert, wenn Marcel Reich-Ranicki das Amt des Kunstrichters mit dem eines Zensors mischt.

Kein Nachfolger in Sicht

Es dürfte nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland keinen Kritiker gegeben haben, der unbefangener mit den Kategorien des Pathologischen umgegangen wäre als Marcel Reich-Ranicki. "Mir graut vor sibyllinischen Büchern, die häufig genug Unheil angerichtet haben. Ein heiliges Feuer kenne ich nicht und will also von dessen Hütern nichts wissen", hat er über Hölderlin gesagt.

Während die zurückgekehrten deutschen Juden, wie etwa Adorno, alles taten, um Friedrich Hölderlins Gedichte aus den Rucksäcken der Wehrmacht herauszuholen, stopfte Marcel Reich-Ranicki, der Hölderlin in die Nähe der "Schreibtischtäter" rückte, sie wieder hinein.

Der Unbelangbare hat keinen Nachfolger. Offenbar gibt es nicht einmal mehr jemanden, der öffentlich den Dissens erträgt. In der Reihe der Versöhnungen, die Marcel Reich-Ranicki jetzt erlebt, von Peter Rühmkorf über Walter Jens bis Günter Grass, fällt auf, dass die Friedensschlüsse meist zu seinen Konditionen vollzogen werden.

Während andere Antipoden, wie Martin Walser, Peter Handke oder Botho Strauß, sich abgewandt haben, um in seinen Kreisen nicht mehr vorzukommen, und viele jüngere deutschsprachige Schriftsteller ihm gänzlich ferngerückt sind. Dabei braucht ein Kritiker vom Temperament und Format Marcel Reich-Ranickis den offenen Widerspruch. Womöglich ist er die einzige Form der Anerkennung, die er wirklich respektiert.

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