Süddeutsche Zeitung

Literatur:Der Weg ins Offene

Von Mythen lässt sich der Münchner Übersetzer und Schriftsteller Simon Werle inspirieren, auch von Meditation. Nun stellt er seine bemerkenswerten Baudelaire-Übertragungen vor

Von Antje Weber

Jeder Schritt führt ins Ungewisse. Auch jeder Satz, den ein Autor schreibt; jeder Auftrag, den ein Übersetzer annimmt. Charles Baudelaire, zum Beispiel. Einer der bedeutendsten französischen Schriftsteller; einer, der als Bürgerschreck und Märtyrer galt, der mit dem Gedichtband "Les Fleurs du Mal" unbetretene Bereiche des Abgründigen, Verworfenen, rauschhaft Erotischen erschloss und so der Literatur im 19. Jahrhundert eine Tür in die Moderne aufstieß - an den wagt sich nicht jeder Übersetzer einfach so heran.

Auch der Münchner Autor und Übersetzer Simon Werle näherte sich dem Schriftsteller nicht aus eigenem Antrieb: "Ich hätte mich nicht getraut." Ermuntert von einem Lektor, Kristian Wachinger, stellte er sich der "großen und sehr spannenden Herausforderung" doch. Ein Glücksfall für die Literatur; Werles vor drei Jahren erschienene Übertragung von Baudelaires "Die Blumen des Bösen" (Rowohlt), im vergangenen Jahr ergänzt um den "Spleen de Paris", wurde mit dem Eugen-Helmlé-Übersetzerpreis ausgezeichnet. An diesem Dienstag stellt Werle den französischen Klassiker im Lyrik Kabinett vor - und erklärt die Grundgedanken seiner Transferleistung.

Baudelaire sei der erste Autor gewesen, mit dem er sich vor vielen Jahren beim Romanistikstudium beschäftigt habe, erzählt der heute 62-Jährige bei einem Treffen im Café. Heute lese er ihn differenzierter als damals; als junger Mensch habe er die Polyphonie nicht verstanden, die ideologische und psychologische Vielschichtigkeit. Interessant findet er an Baudelaire ein "unbewusstes Selbstbestrafungsprogramm", seine "Fixierung auf Erbsünde, Schuld". Baudelaire habe sich ja viele Masken angelegt, "aber die innere Fixierung auf Schmerz hat er nicht vor sich hergetragen". Sie lässt sich herauslesen, ja, doch als man den Schriftsteller 1857 anlässlich der "Blumen des Bösen" vor Gericht brachte, aus "dummer Prüderie", habe man Baudelaires "Verzweiflung an sich selbst und seiner Zeit" überlesen, verdrängt.

Die bleibende Bedeutung Baudelaires jedenfalls ist für Werle "nicht zu trennen von Formfragen". Die Verschmelzung, in diesem Fall von klassisch geschulter Form und grenzüberschreitenden Inhalten, mache diesen Autor singulär. Was für heutige Leser davon noch spürbar ist? Als sich Werle zur Neuübertragung entschloss, nach mehr als 100 Vorgängern, die sich in anderthalb Jahrhunderten bereits daran versuchten, war seine Hauptmotivation, "der Form sehr viel Aufmerksamkeit und Energie zuzuwenden". Er wollte zeigen, dass es "Klanggebilde" sind, die zu uns sprechen, dabei der Semantik möglichst treu bleiben - "ein Kraftakt". Es ging ihm darum, wie er im Nachwort schreibt, "die inneren Kraftlinien zu bewahren", die sich "an den syntaktischen Grundstrukturen des Verses wie an den Wellen des Atemstroms orientieren". Und tatsächlich: Wer die Gedichte auf Französisch wie auch Deutsch laut liest, kann sich von diesen Wellen, diesem untrüglichen Gespür für Rhythmus und Klang davontragen lassen.

Wie lange es dauert, einen so anspruchsvollen Gedichtband zu übertragen? Nur 13 Monate seien es gewesen, sagt Werle. Doch er habe ja auch seine Expertise ausspielen können: Seit Jahrzehnten übersetzt er Verstexte, meist für die Bühne. Gefeiert wurde er dafür erstmals 1985, als Racines zuvor als unspielbar geltende "Phädra" in Werles Neuübersetzung an den Münchner Kammerspielen aufgeführt wurde. Er hat auch Theaterstücke von Corneille bis Voltaire wieder zugänglich gemacht, zeitgenössische Autoren wie Bernard-Marie Koltès übersetzt; Simon Werle hat also, wie er sagt, eine gute "Schulung in dieser Kunst der Tüftelei" hinter sich.

Auch etliche eigene Theaterstücke hat er geschrieben, zuletzt acht Stücke "im antiken Kontext", 2014 zusammengefasst im Band "Mythen. Mutanten". Nur eines dieser neueren Stücke, "Melos. Die Invasion", ist an zwei Theatern aufgeführt worden. Doch die Bühnen haben sich von einem literarischen, sprachbezogenen Theater wegentwickelt, das ist Werle bewusst. Seine Texte seien sperrig, komplex, setzten Bildung voraus, sagt er. Im heutigen Theater sei die Auseinandersetzung mit Mythen brachialer, vordergründiger geworden; sein Ansatz dagegen sei, "zu den Mythen hinzugehen, zu ihrer Tiefe", er will sie "animistisch reanimieren".

Was ihn, ähnlich wie die Münchner Autorenkollegin Susanne Röckel, so sehr am Mythos interessiert? "Die Trächtigkeit", sagt Werle nach einigem Nachdenken und erklärt das so: Ein Mythos sei "der Strand, wo das Unbewusste seine Wellen mächtig anspült". In diesen Wellen formten sich Gestalten, nicht eindeutig, sondern "Wesen des Übergangs, der Potenzialität". Und er wirft noch einen Satz in die Brandung: Der Mythos sei ein "Feld der ästhetischen Bildung qua Körpererfahrung", was man sich vielleicht als eine Art freien, für Entwicklungen offenen Raum vorstellen kann. Simon Werle kommt, um es zu erklären, aufs Übersetzen zurück: Ihm sei wichtig, "immer wieder in die Wortlosigkeit zurückzufinden, in eine Zone, wo die Sprache kein Recht, keine Macht mehr hat". Er will, phasenweise, "die Sprache loswerden". Inspiriert von der Körperarbeit, von Meditation, Tanz, Klangräumen, will er "über die Schwelle gehen, wo nichts definiert ist". Nur dann könne sich das Kraftfeld nach eigenen Gesetzen ausrichten. Das sei, wenn es gut gehe, "ein bisschen magisch".

Um Mythen kreisen übrigens auch neue Erzählungen, für die Werle derzeit einen Verlag sucht, ebenso wie für einen fertigen Roman. Der stehe ganz für sich, sagt der Autor, der 2003 für den Familienroman "Der Schnee der Jahre" den Tukan-Preis erhielt; in seinem neuen Roman erforscht er die Lebensgeschichte einer magersüchtigen Frau. Auch ein Theaterstück hat er gerade beendet, "Apnoe Desdemona", demnächst soll es dazu eine szenische Lesung im Meta Theater in Moosach geben. Werle würde sich neben dem Schreiben in nächster Zeit auch gern einem weiteren Übersetzungsprojekt widmen: Eine Anthologie mit Dichtern rund um Baudelaire schwebt ihm vor. Und dann hat er ja noch das "Hobby", wie er einmal in einem Interview formulierte, "der Denaturierung des Menschen auszuweichen" und viel in die Natur zu gehen. "Fraktalspaziergang" nennt er das heute lächelnd, nicht nur mit den Beinen, sondern sozusagen mit allen Zellen, in der "Bereitschaft, mit jedem Schritt in etwas Unfassbares hineinzugehen".

Was das bedeutet? Wieder geht es ihm darum, "die Offenheit zu vergrößern", eine "andere Art von Vielheit" zu empfinden. Und Werle kommt noch einmal auf Baudelaire zu sprechen, der einst von einem "Moi multiplié" schrieb, einer "vaporisation du Moi". Seine Idee eines vielgestaltigen, eines sich auflösenden Ichs wirkt ungeheuer heutig. "Da bin ich mit ihm stark in Resonanz", sagt Simon Werle; er schwingt vom Stuhl und entschwindet durch die Tür, in die Helligkeit dieses Mittags, ins Offene.

Baudelaire-Abend mit Simon Werle, Dienstag, 14.Januar, 20 Uhr, Lyrik Kabinett, Amalienstr. 83a

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SZ vom 13.01.2020
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