Literatur:Das sind die wichtigsten Romane des Frühjahrs

Über diese Bücher spricht man jetzt. Aber was taugen sie? Ein Überblick über den Bücherfrühling zu Beginn der Leipziger Buchmesse.

Aus der SZ-Literaturredaktion

10 Bilder

´Der goldene Handschuh" - Heinz Strunk

Quelle: dpa

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Heinz Strunk: Der goldene Handschuh

Heinz Strunk wurde als Mitglied des Komiker-Trios "Studio Braun" bekannt und schrieb mehrere autobiographisch gefärbte Romane, bevor er dieses Frühjahr mit "Der Goldene Handschuh" für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert wurde. Darin erzählt er die Geschichte des Serienmörders Fritz Honka, der in den Siebzigerjahren in Hamburg sein Unwesen trieb. In der schimmeligen Boxerkneipe "Der goldene Handschuh", die noch immer existiert, lernte Honka die Gelegenheitsprostituierten kennen, die er später in seiner überheizten Dachwohnung ermordete.

Heinz Strunk gelingt es, die hohle Phrase vom "Scheitern als Chance" als das zu entlarven, was sie ist: hohntriefender Dünkel, zumindest hier an Orten wie dem Goldenen Handschuh. Das Buch analysiert nichts, dazu ist es genauso ohnmächtig wie seine Opfer, distanziert sich aber auch nicht von ihnen, und es leistet sich ihnen gegenüber auch nur so viel Empathie, wie nötig ist, um zu erkennen: Brauchst gar nicht wegzuschauen, das könntest nämlich genauso gut auch du sein.

Lesen Sie hier die vollständige Rezension von Tex Rubinowitz.

´Der Fuchs" - Nis-Momme Stockmann

Quelle: dpa

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Nis-Momme Stockmann: Der Fuchs

In "Der Fuchs" erzählt der 34-jährige Nis-Momme Stockmann die Geschichte von Finn, der Anfang der Neunzigerjahre in einem kleinen Nest an der Nordseeküste aufwächst. Thule, wie die Insel aus der Sage, heißt der Ort, unter dessen provinzieller Enge und stumpfsinnigen Bewohnern der Ich-Erzähler leidet. Eine Gleichgesinnte findet Finn einzig in Katja, einem Mädchen, das ein paar Jahre älter ist als er. Für die einen ist sie völlig verstrahlt mit ihren wilden Theorien über eine angebliche Weltverschwörung. Finn aber lässt sich anfixen von ihren Prophezeiungen und wird zum Mitstreiter im heiligen Krieg gegen die Mächte der Finsternis.

"Der Fuchs", der auch für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert ist, erzählt von Unordnung und frühem Leid, von der ersten Liebe, die im Verrat endet, und vom Versuch einer Flucht aus der Realität. Doch Stockmann räumt in diesem mehr als 700 Seiten dicken Buch den Hirngespinsten seines Alter Egos entschieden zu viel Raum ein. Dorfmythologie und nordisches Sagengut, Science-Fiction-, Splatter- und Thriller-Anleihen verklebt er mit Kindheitserinnerungen zu einem deliranten Fließtext.

Lesen Sie hier die vollständige Rezension von Christopher Schmidt.

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Quelle: verlag

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Roland Schimmelpfennig: An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts

"An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts" heißt der erste Roman des Dramatikers Roland Schimmelpfennig und schon der Titel deutet an, worum es Schimmelpfennig geht: Um ein modernes Wintermärchen aus der Großstadt. Ein Wolf, der sich in Berlin herumtreibt und mit kalten Augen auf die Dinge blickt, ist das Leittier der Romanfiguren, deren Wege sich zufällig kreuzen: Ein junges Ausreißerpärchen gibt es da, die Eltern, die nach ihm suchen, ein Kioskbesitzer, ein polnischer Saisonarbeiter und seine Freundin. Schimmelpfennig erzählt von ihnen in episodischen Shortcuts, die ein eiskristallklares Kaleidoskop der Gegenwart ergeben sollen.

Obwohl ebenfalls für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert, lässt einen Schimmelpfennigs Roman so kalt wie nur je ein Wintermorgen. Zu gemacht wirkt der monoton lakonische, bis auf den Knochen abgenagte Ton dieser Eiskonfekt-Prosa mit ihrem Hauptsatz-Manierismus. Die Distanz schlägt um in einen Kitsch der Härte, weil sich die thematische Kälte in der Sprache verdoppelt. Überdeutlich ist die Absicht spürbar, quer durch die Milieus eine soziologische Wetterkarte Deutschlands zu zeichnen

Lesen Sie hier die vollständige Rezension von Christopher Schmidt.

´Frohburg" - Guntram Vesper

Quelle: dpa

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Guntram Vesper: Frohburg, Gewinner des Leipziger Buchpreises

"Frohburg" ist nicht nur der Titel von Guntram Vespers neuem Roman, es ist auch der Name seines Geburtsortes. Vesper verbrachte in der Stadt südlich von Leipzig die ersten 16 Jahre seines Lebens, bis er mit seiner Familie 1957 über Berlin nach Westdeutschland floh. Und so hat das Buch, das in diesem Jahr mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde, viele Aspekte einer Autobiografie, ohne eine Autobiografie zu sein. Denn neben dem Ich, das hier schreibt und sich beim Schreiben auch immer wieder zuschaut, tritt jene magische Konfiguration "Frohburg" in den Mittelpunkt und verselbständigt und verästelt sich. "Frohburg" wird zu einem Signum für Heimatlosigkeit und zum Fluchtpunkt der Literatur. Die 1000 Druckseiten dieses Buches bilden ein Kontinuum, einen einzigen Bewusstseinsstrom.

Der Autor Guntram Vesper verbindet seine Gegenwart mit derjenigen der Eltern- und Großelterngeneration durch konkrete Motive. Die Zeit wird in "Fohburg" zu einem Prisma, sie wird kristallin. Während dem sinnlichen, prallen Erzählen gehuldigt wird und ein deftiger Realismus fein ziselierten Gedankenmustern die Waage hält, ist der Hauptdarsteller in diesem Roman unverkennbar die Literatur selbst. Derart farbenreich ist das deutsche Milieu im Laufe der Jahrzehnte selten dargestellt worden, zumal in dieser offenen Form.

Lesen Sie hier die vollständige Rezension von Helmut Böttiger.

Schorsch Kamerun: Die Jugend ist die schönste Zeit des Lebens

Quelle: Ullstein

5 / 10

Schorsch Kamerun: Die Jugend ist die schönste Zeit des Lebens

Schorsch Kamerun, Theaterregisseur und Sänger der "Goldenen Zitronen", hat seinen ersten Roman geschrieben. In "Die Jugend ist die schönste Zeit des Lebens" erzählt er die Geschichte von "Tommi from Germany". Tommi heißt eigentlich Horsti, aber wer als Punk Anfang der Achtzigerjahre auf dem Land überleben möchte, braucht eben eine neue Identität. Der Autor Kamerun und seine Hauptfigur haben fast allle biographischen Details gemeinsam, ohne Mühe lassen sich die realen Orte, Weggefährten und Projekte entschlüsseln.

Wer allerdings einen traditionellen Roman mit linearer Handlung und klar konturierten Charakteren erwartet, wird von Kameruns Debüt enttäuscht sein. Das Buch ist viel eher eine assoziative Aneinanderreihung autobiografisch angehauchter Anekdoten, durchsetzt mit gesellschaftskritischen Exkursen. Vor allem diese allgemein gehaltenen Exkurse sind schuld daran, dass Tommis Ernüchterungsprozess vom emphatischen Punk zum zweifelnden Künstler nicht so eindrücklich ausfällt, wie es möglich gewesen wäre. Trotzdem gelingt Kamerun mit "Die Jugend ist die schönste Zeit des Lebens" etwas nicht Unerhebliches. Schafft er es doch, das Versprechen des Punk nachvollziehbar zu machen, die Befreiung, die es trotz aller Fallstricke bedeuten kann, sich für eine Existenz als Störfaktor zu entscheiden. Wo der Text diese Verweigerungsgeste - oder ihr Scheitern - konkret erfahrbar macht, ist er klug und von melancholischem Witz.

Lesen Sie hier die vollständige Rezension von Luise Checchin.

Nell Zink Der Mauerläufer

Quelle: Rowohlt Verlag

6 / 10

Nell Zink: Der Mauerläufer

Die Amerikanerin Nell Zink lebt im brandenburgischen Bad Belzig und wurde vom Groß-Vogelkundler und Bestseller-Autor Jonathan Franzen entdeckt. Ihr erster Roman "Der Mauerläufer" handelt von einem Vogel und seinen schrägen menschlichen Pendants, einem amerikanischen Birdwatcher-Pärchen, das in Bern lebt. Stephen verdient das Geld, die Ich-Erzählerin Tiff ist bekennende Hausfrau und Noch-Nicht-Mutter. Bald landen die beiden in Berlin und werden Umweltaktivisten. Neben cartoonhafter Krawallironie prägt Tiffs reicher Bildungsschatz - von Shakespeare über Marx und Kropotkin bis zu Robert Walser - den Ton des Romans. Vor allem Marx hilft ihr, den Zusammenhang von Ehe, Sex, Arbeit und Reproduktionsprozess zu verstehen. Doch bewahrt sie sich ihren erfrischenden Biologismus; "brüten und futtern" ist ihr Lebensinhalt, auch wenn es mit dem Nestbau in Kreuzberg nicht so richtig klappt.

Nell Zink bringt in "Der Mauerläufer" zusammen, was zusammengehört: Vogel, Frau, Fetisch. Ihre monstermeisenmäßig durchgeknallte Vögelgroteske bietet alles auf, um Lebewesen als Triebwesen kenntlich zu machen - was zu Ökoterrorismus und schließlich zu bildungsromanhafter Selbsterkenntnis führt.

Lesen Sie hier die vollständige Rezension von Jutta Person.

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Quelle: SZ

7 / 10

Ronja von Rönne: Wir kommen

Der Debütroman der 24-jährigen Welt-Redakteurin Ronja von Rönne handelt von einer jungen Frau namens Nora, die um ihre Jugendfreundin Maja trauert und gleichzeitig mehr oder weniger halbherzig versucht, ihre zerbröselnde Vierer-Beziehung zu retten. Nora ist eine Art Romanfigur gewordener Hashtag ihrer Generation.

Leider hat man bei der Lektüre von "Wir kommen" den Eindruck, dass der Autorin ihr Text herzlich egal ist. Das fängt mit dem Titel an: Es gibt in diesem Buch weder ein erwähnenswertes "Wir", dafür ist Ich-Erzählerin Nora viel zu angewidert von ihrem Umfeld. Und es "kommt" eigentlich auch niemand, nicht einmal im übertragenen Sinn. Die sehr läppische Vierer-Sex-Szene ("dann waren wir viele, dann waren wir überall") wirkt, als fände die Autorin allein die Vorstellung von Gruppensex so anstrengend, dass sie nicht mal Lust verspürt, ihn zu beschreiben. Diese schlaffe Haltung gegenüber dem eigenen Text spiegelt sich in der gesamten Konstruktion der Erzählerin und ihrer grässlichen Beziehung zu dem dauergrantigen Jonas, dem herrschsüchtigen Karl und der magersüchtigen jungen Mutter Leonie wider. "Wir kommen" verströmt eine Kälte, der ein tiefes Desinteresse am Menschen und was ihn dazu macht, zugrunde liegt.

Lesen Sie hier die vollständige Rezension von Meredith Haaf.

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Quelle: SZ

8 / 10

Jane Gardam: Eine treue Frau

Jane Gardam, Jahrgang 1928, begann erst mit 43 Jahren zu publizieren und hatte mit "Old Filth" in England großen Erfolg. Unter dem Titel "Ein untadeliger Mann" erschien dieser erste Teil einer Trilogie im Herbst letzten Jahres in Deutschland und hat auch hier auf Anhieb ein Publikum gefunden. Darin erzählt Gardam die Geschichte des Anwalts Edward Feathers, der zu den "Raj Orphans" gehört, den Kindern der britischen Kolonialbeamten, die im Alter von vier oder fünf Jahren zur Erziehung nach England geschickt wurden.

"Eine treue Frau" ist nun der zweite Teil der Trilogie und konzentriert sich auf Edward Feathers Frau Betty. Auch Betty, in China geborene Schottin, ist ein Waisenkind, das in England nie vollständig ankommt, sie braucht die Ehe mit dem erfolgreichen Kronanwalt, aber die große Liebe, die sie unmittelbar nach der Verlobung in Hongkong erlebt hat, wird nie ganz Vergangenheit. Und diese Liebe war nicht Edward Feathers, sondern dessen Widersacher und Konkurrent in vielen Prozessen, Terry Veneering. Die Kunst Jane Gardams ist an der kriminalistischen Subtilität Jane Austens im Blick auf Ehen und Eheanbahnungen geschult, an den seltsamen Zufällen bei Charles Dickens, an Kipling und an E. M. Forster. Ganz so dicht wie der erste Band wirkt "Eine treue Frau" allerdings nicht, weil hier das Spiel mit den Zeitschichten und Rückblenden weniger kunstvoll ausfällt.

Lesen Sie hier die vollständige Rezension von Lothar Müller.

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Quelle: SZ

9 / 10

Christoph Hein: Glückskind mit Vater

In seinem neuen Roman "Glückskind mit Vater" erzählt Christoph Hein die Geschichte zweier ungleicher Brüder. Über beiden liegt ein Schatten: Ihr Vater wurde als Brigadeführer der SS zum Kriegsverbrecher. Anders als sein Bruder Gunthard stellt sich die Hauptfigur Konstantin dem Nazi-Erbe, das ihm auferlegt ist. Und das, obwohl er in der DDR immer wieder auf seine Abstammung gestoßen wird. Ob es um den Zugang zum Abitur oder um einen Platz im Sportinternat geht, zuverlässig schließen sich die Türen, sobald aus den Akten klar wird, wessen Sohn Konstantin ist. Trotzdem ist er ein Glückskind. Er leidet unter den Zurücksetzungen, aber er verbittert nicht. Er sieht, anders als sein Bruder Gunthard, die Verbrechen seines Vaters. Und es wenden sich ihm die Menschen zu.

Hein hat in "Glückskind mit Vater" den positiven Helden zum Ich-Erzähler gemacht, da liegt ein Problem, das der ostentativen Bescheidenheit. Dass dies den Leser weniger stört, als zu erwarten wäre, hat mit dem ruhigen Ton des Romans zu tun. Es wird weder moralisch geprahlt, noch stilistisch geprunkt.

Lesen Sie hier die vollständige Rezension von Stephan Speicher.

Emmanuel Carrère: Das Reich Gottes

Quelle: Matthes und Seitz

10 / 10

Emmanuel Carrère: Das Reich Gottes

Emmanuel Carrère erzählt in "Das Reich Gottes" vom frühen Christentum und seiner eigenen spirituellen Suche. In seiner Heimat Frankreich landete er damit einen Überraschungsbestseller. Carrère lockt seine Leser in diese ferne Zeit und fremde Gesinnungswelt, indem er mit seiner eigenen metaphysischen Sehnsucht und spirituellen Suche Anfang der Neunzigerjahre beginnt, einer Phase, in der er exerzitienartige Tagebücher führte, auf deren bigotten Ton er heute nur mit ironischem Befremden reagieren kann. Ausgehend von der Apostelgeschichte, dem Lukasevangelium und Ernest Renans "Das Leben Jesu", versucht Carrère dann, sich dem jungen Lukas an die Fersen zu heften, einem wortgewandten, griechischen Arzt, der hier zum Chronisten der Apostel wurde, weil ihn deren verrückte Lehre von der Umwertung aller Werte faszinierte. Die Schwachen werden die Starken, liebe deine Feinde.

Carrère schafft es, in diesem merkwürdigen Zwitter aus Roman, philosophischem Essay, historischer Abhandlung und persönlicher Bilanz das nie zuvor Gehörte der Evangelien so herauszupräparieren, dass man das ungläubige Staunen damaliger Paulus-Leser nachempfinden kann. Das könnte schnell nach Weihrauch riechen und nach Bekenntnisschwulst klingen, wäre da nicht dieser Humor, der immer wieder überraschend um die Ecke kommt.

Lesen Sie hier die vollständige Rezension von Alex Rühle.

© SZ.de/khil/luc/cag/holz
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