Literatur:Das sind die wichtigsten Bücher des Frühjahrs

Paul Auster, Hanya Yanagihara, Fatma Aydemir: Über diese Bücher spricht man jetzt. Ein Überblick zu Beginn der Leipziger Buchmesse.

Aus der SZ-Literaturredaktion

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(Foto: Rowohlt Verlag)

Paul Auster: 4 3 2 1 Bei Paul Austers Bildungsroman mit dem zunächst recht rätselhaften Titel "4 3 2 1" handelt es sich nicht nur um einen Lebenslauf, den sein 1947 geborener Protagonist Archie Ferguson hinter sich zu bringen hat, sondern gleich um vier, die sich je alternativ an bestimmten Weggabelungen auftun. Darin aber, dass der Leser dieses Prinzip so spät begreift, offenbart sich das strukturelle Problem des Buchs: Die Alternativen sind gar keine. Alle vier möglichen Biografien haben so große Ähnlichkeit miteinander, dass man sie als eine einzige Erzählung wahrnimmt. Und diese Erzählung erkennt man unschwer als die Geschichte von Auster selbst. Immerhin hat dieses etwas steife Panorama den Vorzug, fühlbar zu machen, dass Amerika vor fünfzig Jahren schon einmal ziemlich genau an demselben Punkt angelangt war wie heute: im Inneren zerrissen bis an den Rand des Bürgerkriegs, im Äußeren festgenagelt auf eine Ostasien-Politik, die, bei aller Aggressivität, das eigene Interesse aus den Augen verliert. Lesen Sie hier die vollständige Rezension von Burkhard Müller.

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(Foto: Hanser Verlag)

Fatma Aydemir: Ellbogen In ihrem Debütroman "Ellbogen" erzählt die taz-Redakteurin Fatma Aydemir von einer jungen Deutschtürkin. Es ist die Geschichte einer Selbstfindung, die jede Menge Sprengstoff enthält. Ausgerechnet in der Nacht, in der sie volljährig wird, tötet Hazal einen Menschen - und weigert sich anschließend, die Tat zu bereuen. Sie will kein "Opfer" mehr sein. Dann lieber Täter. Kurz vor dem Putschversuch des Militärs am Bosporus in die Türkei abgeschoben, erlebt sie eine aufgeheizte politische Stimmung. Irgendwie gehört sie dort hinein: ein menschlicher Sonderfall inmitten des Ausnahmezustands. Hazal lebt ihr ganz eigenes Leben und tut etwas, was für türkische Mädchen nicht vorgesehen ist. Sie trifft eigene Entscheidungen, auch wenn es die falschen sind. "Ellbogen" ist ein Tritt in den Magen. Genauer, zwei Tritte. Einer für die frauenfeindliche türkische Gesellschaft. Und einer für die Verlogenheit der ach so liberalen Deutschen. Lesen Sie hier die vollständige Rezension von Philipp Bovermann.

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(Foto: Kookbooks)

Steffen Popp: 118 118 Elemente umfasst das Periodensystem derzeit - "nichts, was nicht aus ihnen bestünde", wie es in einer Anmerkung am Ende von Steffen Popps gleichnamigem, viertem Gedichtband heißt. Und nun präsentiert Popp sein eigenes Periodensystem: 118 Gedichte über die elementaren Bezugsgrößen seines Schreibens, nominiert für den Preis der Buchmesse Leipzig. Es geht bei Popp um den Kopf und den Körper. Um Ohren, Augen und den Versuch, sich einen Reim zu machen auf diese Welt. Um die Ungeheuer in der Tiefe und die Höhenflüge der Fantasie. Ums Denken ebenso wie ums Träumen. Um alles also? Durchaus. Aber es ist die Kunst dieses Bandes, dieses Alles aufs Handlichste zu komprimieren. Lustvoll und hochkomisch feiern diese Gedichte den zerebralen Ausnahmezustand. Popp interessieren die mit den Begriffen der Elemente verbundenen Vorstellungen ebenso wie die Klang- und Hallräume der einzelnen Wörter. Wie im Chemielabor lässt er die Wörter in seinen Gedichten miteinander reagieren. Mit Funkenschlag, ja kleineren und größeren Explosionen ist dabei jederzeit zu rechnen. Lesen Sie hier die vollständige Rezension von Tobias Lehmkuhl.

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(Foto: Wallstein Verlag)

Lukas Bärfuss: Hagard Mit seinem Roman "Hagard" ist der Schweizer Autor Lukas Bärfuss für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Es ist das ästhetisch souveräne, aber auch verletzliche Porträt eines Menschen in einer modernen, digitalisierten Welt. Bärfuss führt seinen Helden auf Abwege und lässt ihn aus einer Laune heraus einer Frau folgen, die er gar nicht kennt. Am Anfang ist es nur ein kleiner Zeitvertreib, ein Spiel, das er jederzeit abbrechen kann. Doch immer mehr rückt ihm eine animalische Lust wie eine Kreatur auf den Leib. Der zentrale Handlungsstrang erzählt die Vernichtung einer soliden, auf Effektivität getrimmten Existenz in gerade einmal sechsunddreißig Stunden. Dabei verfolgt der Roman eine starke These: dass das Smartphone unsere Lebenswelt grundlegend verändert und die menschliche Triebstruktur umstülpt, mehr noch, dass es an der "Abschaffung des Menschen" beteiligt sein wird. Dabei ist "Hagard" kein Thesenroman, sondern ein literarisches Traumspiel: Wie sieht es aus, wenn einer von einem Moment auf den anderen aus den Zwängen der Gegenwart aussteigt? Wie lange hält er durch? Länger als die Laufzeit eines Akkus? Lesen Sie hier die vollständige Rezension von Meike Fessmann.

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(Foto: dpa)

Anne Weber: Kirio Ein so leichtfüßig daherkommendes Kabinettstück zwischen Kindermärchen, Schelmenroman, Lebensweisheitsgleichnis und Heiligenlegende wie Anne Webers "Kirio" ist schon lange nicht mehr erschienen. Mit ihrer Geschichte aus dem Leben eines Taugenichts hat die Autorin ein kleines Zauberding geschaffen, das nun auch für den Leipziger Buchpreis nominiert ist. Mit den üblichen Kategorien ist der Titelfigur dieses Romans nicht beizukommen. Sie hat kein Gesicht, keine Herkunft, ist die Güte in Person, ohne dies selber zu merken. Für die Figur müssten die Grammatik gesprengt und neue Fürwörter erfunden werden. In die "er-sie-es"-Logik passe sie schwerlich hinein, wird schon zu Beginn des Buchs gewarnt. Am liebsten auf Händen gehend trollt sich Kirio durch die Welt. Einen Unterschied zwischen gut und schlecht kennt die Figur nicht, alles ist, wie es ist. Aber in jedem, der mit ihr in Berührung kommt, wirkt diese wie eine Glücksahnung weiter. Lesen Sie hier die vollständige Renzension von Joseph Hanimann.

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(Foto: N/A)

Natascha Wodin: Sie kam aus Mariupol In ihrem Roman "Sie kam aus Mariupol" erkundet Natascha Wodin die Herkunftswelt ihrer Mutter. Jahrzehnte nach ihrer dunklen Kindheit, in der sie ihre Mutter so sehr hasste, dass sie davon träumte diese umzubringen, entdeckt die fast siebzigjährige Tochter, dass die Stadt Mariupol, die sie sich eiskalt und lebensfeindlich vorgestellt hatte, im Süden der Ukraine liegt, am Asowschen Meer, mit Sommertemperaturen bis zu vierzig Grad. Natascha muss ihr Mutterbild revidieren: an die Stelle von Mantel und Eis treten Meer und Sandalen. Natascha Wodin beschreibt diese Suche nach der eigenen Herkunft, ohne ihre Eltern zu verurteilen. Ihr ist ein so klassisches wie außergewöhnliches Buch gelungen. Geradlinigkeit wird darin weder stilistisch noch thematisch angestrebt. Und man kann hier auch gut auf sie verzichten. Wodin steht damit zu Recht auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse. Lesen Sie hier die vollständige Rezension von Hans-Peter Kunisch.

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(Foto: Hanser Berlin)

Hanya Yanagihara: Ein wenig Leben Hanya Yanagiharas gefeierter Roman "Ein wenig Leben" erzählt vom Trauma des Missbrauchs. Ein Anti-Bildungsroman, der sich selbst verschlingt. Und den Leser gleich mit. Das Buch beginnt harmlos als Geschichte einer Freundschaft zwischen vier jungen Männern in New York. Im Zentrum der Erzählung aber steht Jude, ein hochbegabter junger Mann, dessen grausame Missbrauchsvergangenheit nach und nach offen gelegt wird. Und diese Kindheit hat nicht nur körperliche Narben hinterlassen. Erinnerungen an sie blitzen in Judes Flashbacks auf, schreckliche Ereignisse, auf die Andeutungen der Erzählstimme vorausweisen. Auf die Shortlist des Man Booker Prize und ins Finale des National Book Award kam der Roman aber nicht deshalb, weil er die Jury zu Tränen rührte. Die Anziehungskraft von "Ein wenig Leben" erschöpft sich nicht im Melodramatischen, ihre Quelle liegt tiefer, sie entspringt der narrativen Struktur. Es gelingt Hanya Yanagihara in diesem Roman, das Erzählen selbst seinem Abgrund zuzuführen und den Leser in diesen Strudel mit hineinzureißen. Lesen Sie hier die vollständige Rezension von Karin Janker.

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(Foto: dpa)

Jonas Lüscher: Kraft Jonas Lüschers fulminantes Romandebüt "Kraft" erzählt vom Clash zwischen Old Europe und New Economy und vereint Campus-Roman, Gelehrtensatire und beinharte Kapitalismus-Kritik in sich. Die Leichtfüßigkeit, mit der Lüscher philosophische Exkurse und ein fein gewobenes Motivnetz auf nur knapp 240 Seiten zu einer luziden Gegenwartsparabel verdichtet, ist staunenswert. Titelheld Richard Kraft ist die Karikatur des europäischen Intellektuellen, sein Versagen spiegelt den geistigen Bankrott einer Elite wider, die dem drohenden digitalen Totalitarismus nicht das Geringste entgegenzusetzen hat. Die kühle Intellektualität dieses Autors ist ein schöner Fremdkörper in einer Zeit, in der Reflexionsprosa nicht allzu hoch im Kurs steht. So berechtigt es auch sein mag, Literatur zu einer Hilfskraft der Einfühlung zu machen, so wohltuend ist der Laserblick eines Jonas Lüscher, der unsere Gegenwart mit einem eisigen Sengstrahl analysiert. Lesen Sie hier die vollständige Kritik von Christopher Schmidt.

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(Foto: S. Fischer)

Roman Ehrlich: Die fürchterlichen Tage des schrecklichen Grauens Das Dunkle in uns ist revolutionär, lehrt Roman Ehrlichs anarchischer Kinoroman "Die fürchterlichen Tage des schrecklichen Grauens". Auf den mehr als sechshundert Seiten geht es um die Insistenz des hätte, um seine Bedeutung fürs Erinnern und Erzählen, und darum, welchen Wortlaut Gedanken haben können. "Das schreckliche Grauen" heißt der Horrorfilm, an dem Moritz gebeten wird mitzuarbeiten, von Christoph, mit dem er einst gemeinsam studierte. Zwei bürgerliche Jungs, mit dem Establishment unzufrieden, mit dem Drang, alles anders zu machen als die älteren Generationen. Über viele Wochen trifft sich das Team des Horrorfilms, um seine persönlichen Angsterfahrungen zu kommunizieren, was die Suche nach dem Stoff für den Film darstellt. Mit der Profession des Filmemachens hat das wenig zu tun. Der geplante Film wird schnell zu einer Art Vorwand. Im zweiten Teil schwindet die Heimeligkeit der kreativen Therapieabende, man fährt durchs Land und macht vereinzelt Aufnahmen. Christoph wird zunehmend unberechenbar, viele setzen sich ab. Wer mit dem Horrorfilm spielt, lebt gefährlich. Was als kleine bürgerliche Erzählung beginnt, entwickelt sich langsam aber unausweichlich zur Revolution. Die Dekonstruktion, die Zersetzung, die das Horrorkino anvisiert, wendet Christoph in einem letzten großen Auftritt ins Apokalyptische und Revolutionäre. Lesen Sie hier die vollständige Rezension von Fritz Göttler.

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(Foto: Hanser Berlin)

Stefan Hertmans: Die Fremde Jahrelang hat Stefan Hertmans an "Die Fremde" gearbeitet. Ausgangspunkt des Romans ist der französische Wohnsitz des Autors in Monieux. Im Archiv, in der Bibliothek und auf Reisen hat Hertmans der Geschichte nachgespürt, die sich zur Zeit des Ersten Kreuzzuges im späten 11. Jahrhundert vor seiner Haustür zugetragen hat. Er berichtet vom Schicksal einer Christin, die ihre Familie verließ und zum jüdischen Glauben übertrat, um David, den Sohn eines Rabbis zu heiraten. Um ihren Verfolgern zu entgehen, flüchteten sie nach Monieux. Doch dauerhafte Sicherheit fand das Paar dort nicht. Bei einem Pogrom durchziehender Kreuzritter wurde David ermordet, die zwei Kinder des Paares wurden geraubt. Im Präsens tritt der Erzähler an die Seite der Figuren und scheint sich gelegentlich an den Ekstasen der Liebenden und dem Delirium der entlaufenen Christin angesteckt zu haben, die im Aufschwung der Pogrome und Kreuzzüge untergeht. Nie macht diese fiebrige Einbildungskraft ein Hehl daraus, dass sie ein mögliches in ein wirkliches Geschehen verwandelt. Sie schöpft aus historischem Wissen, wenn sie das Europa der christlichen Mobilmachung als eine Gefahrenzone vor Augen stellt, aus der die Fluchtwege nicht hinausführen. Aber die Unruhe dieses Autors ist aus der Gegenwart Europas hervorgegangen. Lesen Sie hier die vollständige Rezension von Lothar Müller. Das SZ-Spezial Literatur finden Sie hier mit SZ Plus.

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