Die Geschichte ist traurig, fast unerträglich sogar mit ihren Schilderungen sexueller Gewalt und akribischer Selbstverletzung. Und sie endet tragisch. Freundschaft kann Jude St. Francis, den brillanten, aber seelisch tief verwundeten Helden, nicht retten. Und doch, da liegt der Zauber, ist Freundschaft der Grund, dass Rettung als Möglichkeit überhaupt in Betracht kommt. "Ein wenig Leben" handelt von vier Freunden in New York, die sich in mageren College-Jahren kennenlernen und dann aufs Glamouröseste Karriere machen: Als Anwalt wie Jude, als Schauspieler, Künstler, Architekt. Zugleich - selten war ein Buchtitel eine solche Untertreibung - durchleben sie persönliche Katastrophen, Drogensucht, Schaffenskrisen, wenn auch kein Unglück, das an jenes von Jude St. Francis heranreicht. Er wurde als Kind von sadistischen Mönchen missbraucht, und das war erst der Beginn seines Leidensweges. Jude findet Adoptiveltern, die ihn lieben, Willem, der Filmstar, wird seine große Liebe. Aber nicht jede Wunde lässt sich heilen, nicht jede Vergangenheit überwinden. Die amerikanische Schriftstellerin Hanya Yanagihara hat ein überwältigendes Melodram geschaffen, in dem sich Menschen unterschiedlicher sexueller Orientierungen oder Hautfarbe so selbstverständlich mischen, als trügen sie nur unterschiedliche Hüte, in dem Liebe wichtiger ist als Blutsverwandtschaft. "Ein wenig Leben" hat den Glanz, besser: das Ideal der Obama-Zeit eingefangen. Ein fast 1000-seitiges Manifest, ein Licht, das in der düstersten Trump-Nacht noch tröstlich strahlt. Sonja Zekri
Hanya Yanagihara: Ein wenig Leben. A. d. Engl. v. Stephan Kleiner; Hanser Berlin, Berlin 2016; 960 Seiten, 28 Euro.