Wer war diese hochgewachsene Frau, die ein bisschen aussah wie Liz Taylor, eine southern belle, stets elegant, aber mit einem Flachmann in der Clutch, eine Sechzigerjahre-Erscheinung in Kostüm oder Twinset wie für die Serie "Mad Men" gecastet, auch wenn sie nur zum nächsten Liquor Store schlurfte, zum Waschsalon oder zurück zum Trailerpark?
Eine Frau, die in ihrem Leben durchschnittlich alle neun Monate umgezogen ist, von Montana nach Texas, von Texas nach Chile, von Chile nach New Mexico, von dort weiter nach New York City und wieder zurück in den Süden: nach Kalifornien, Mexiko, Arizona und Colorado und zuletzt wieder nach Kalifornien. Die ganz allein vier Söhne großzog, obwohl sie drei Mal verheiratet war, sich als Putzfrau durchschlug, als Nachtschwester, Hilfslehrerin, Telefonistin und Arzthelferin. Die dem Alkohol verfiel, die Sucht besiegte, um ihr erneut zu erliegen. Die abstürzte und immer wieder aufstand. Und die nebenher Geschichten schrieb, wüste Geschichten von leuchtender Dunkelheit, Geschichten einer Frau, die eine Heilerin sein wollte in einer heillosen Welt.
Ein posthumes, zweites Debüt
76 dieser Geschichten veröffentlichte sie bis zu ihrem Tod an ihrem 68. Geburtstag im November 2004. In den Achtzigerjahren erschienen sie in drei Bänden und dann noch einmal, ergänzt um weitere Arbeiten, in den Neunzigern.
Lange Zeit hatte Lucia Berlin nur einen kleinen Kreis von Lesern. Bis im vergangenen Jahr 43 ihrer Geschichten unter dem Titel "A Manual for Cleaning Women" bei Farrar, Straus and Giroux erschienen, zum Bestseller wurden und ihren Rang bestätigten als eine der besten Autorinnen, die das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat. Elf Jahre über ihren Tod hinaus hatte dieser Durchbruch auf sich warten lassen, keine literarische Wiederauferstehung, sondern ein Comeback aus dem Nirgendwo, ein posthumes, zweites Debüt.
Nun ist der Band auf Deutsch verfügbar, genauer gesagt eine Auswahl der Auswahl. 30 Geschichten umfasst die von Antje Rávic Strubel übersetzte Ausgabe "Was ich sonst noch verpasst habe".
Das Leben schreibt keine Geschichten. Dazu bedarf es der Kunst des Erzählens
Lucia Berlin schrieb über das, was sie nur zu gut kannte: über vernachlässigte Kinder und zerrüttete Ehen, über Krankheit, Alter und Tod. Sie schrieb über ein Schulmädchen, das zur Verräterin wird, als es eine kommunistische Lehrerin denunziert. Oder über einen alten Apachenhäuptling, der über einen Waschsalon herrscht, ein lebender Totempfahl der domestizierten Freiheit. Oder über eine schwangere Drogenkurierin, die ihr Baby verliert, weil sie den Stoff in ihrem Unterleib transportiert.
Lucia Berlin fand ihre Geschichten an den Hintertüren des amerikanischen Traums, sie war eine Desillusionistin, wie Richard Yates oder John Williams Desillusionisten waren, und eine Mimose aus Stahl, die ihr Schreibideal einmal so beschrieb: "Keine Gefühle zeigen. Nicht weinen. Lass niemanden an dich ran." Aber ohne alle Elendsbukolik oder Larmoyanz. Ihre Geschichten sind alles andere als Prekariats-Pornografie, sondern präzise Feuerstöße aus dem Pandämonium der Deklassierten.
Lucia Berlin zu lesen ist manchmal, als müsste man Diamanten essen. Ihre Geschichten bestehen aus hochverdichteter Wirklichkeit, aber so geschliffen, dass man daran innerlich verbluten kann - wie die Autorin selbst, die ein entgleisendes Leben mit einer Fassung trug, als sähe sie nur aus der Ferne einem Unfall zu, obwohl sie doch zugleich dessen Opfer ist. Am scharfkantigsten an ihrem Schreiben aber ist ihr grimmiger Humor. In einer Geschichte beispielsweise muss der Vater mit einem Rettungswagen ins Krankenhaus gebracht werden. Darauf sagt die Mutter: "Könnt ihr unterwegs anhalten und ein paar Bananen kaufen?" In einer anderen hat eine junge, illegal eingewanderte Mexikanerin ihr Baby zu Tode geschüttelt, damit es aufhört zu schreien, sonst wären beide aus dem Obdachlosenheim geflogen. Als sie erfährt, dass das Kind tot ist, sagt sie bloß: "Fuck a duck." Denn das ist eine der Floskeln, die sie in den USA aufgeschnappt hat. Diese Pointe ist so grausam, dass es einen schier zerreißt.
In einer der kürzesten Geschichten "Mein Jockey" arbeitet die Ich-Erzählerin in der Notaufnahme, und sie tut es gern, weil man dort Männer kennenlernt: "Echte Männer, Helden, Feuerwehrmänner und Jockeys." Besonders die Jockeys haben es ihr angetan, weil sie so klein und zierlich sind und weil sie sich ständig die Knochen brechen, weshalb es von ihnen "wundervolle Röntgenaufnahmen" gibt. "Ihre Skelette sahen aus wie Bäume, wie rekonstruierte Brontosaurier. Wie der heilige Sebastian." Einer dieser Jockeys, der bewusstlos eingeliefert wird, erinnert sie an die "Miniatur eines Aztekengotts", als sie ihn entkleidet, "ein verzauberter Prinz" mit dem prachtvoll zerbrochenen Körper einer antiken Statuette. Und als sie ihn zum Röntgen bringen soll und er sich nicht auf die Bahre legen will, da "trug ich ihn über den Flur, wie King Kong".
Mit dem Vergleich spielt Lucia Berlin auf ihre eigene Körpergröße an, "Bohnenstange" riefen ihr die Kinder in der Schule nach. "Ich war sicher, wenn sie (die Ärzte) meine Wirbelsäule richten würden, wäre ich zweieinhalb Meter groß", heißt es in "Nach Hause finden" einmal. Seit ihrer Jugend litt Lucia Berlin an einer Skoliose, einer krankhaften Verkrümmung der Wirbelsäule, die sie zeitlebens zwang, ein Stahlkorsett zu tragen. In ihren letzten Lebensjahren brauchte sie stets eine Sauerstoffflasche in ihrer Nähe.