Literatur:Balance des Lesens

Michael Ondaatje

In seinem Roman "Kriegslicht" erzählt Michael Ondaatje eine Agentengeschichte - und von einer langen Suche nach Stabilität.

(Foto: Daniel Mordzinski)

Mit dem Bestsellerautor Michael Ondaatje beginnt der Literaturherbst in München - es folgen Lesungen von so unterschiedlichen Schriftstellern wie Helene Hegemann oder Oliver Guez

Von Antje Weber

Manchmal lässt sich ein Leben in einem einzigen Bild erklären. Zum Beispiel mit dem Bild einer Frau, die sich nach dem Schwimmen anzieht und dabei wackelig auf einem Bein steht, das Gesicht von Haaren bedeckt. Diese "fast anonyme Person in einem prekären Gleichgewicht" ist die Mutter des Ich-Erzählers in Michael Ondaatjes neuem Roman "Kriegslicht". Sie führt, wie bald klar wird, das mysteriöse Leben einer Geheimagentin. Und nicht nur sie ist in ihrem Leben um eine schwer herzustellende Balance bemüht, sondern auch ihr Sohn Nathaniel, der sich in diesem Buch an eine schwierige Kindheit im London der Nachkriegszeit erinnert.

Wie werden wir zu jenen Menschen, die wir später im Leben zu sein glauben? Was prägt uns - und in welcher bruchstückhaften Form erinnern wir uns irgendwann daran? Das sind Fragen, die bei Ondaatje immer wieder durchscheinen, auch wenn es im Roman natürlich um sehr viel anderes mehr geht, um die Liebe zum Beispiel, auch um die Liebe zu Windhunden, und um die Liebe zu einer Stadt, in der sich in einer anarchischen Nachkriegszeit allerlei kriminelle Energie Bahn bricht. Ondaatje beschreibt das atmosphärisch so dicht, dass man gerne mit ihm nach den Bruchstücken welcher Wahrheit auch immer sucht. Der kanadische Schriftsteller ist eben ein Großmeister seiner Zunft; gerade erst erhielt sein einstiger Bestseller "Der englische Patient" den "Golden Man Booker Prize" und wurde damit als bestes Buch ausgezeichnet, das in den vergangenen 50 Jahren den renommierten Man Booker Prize gewonnen hat. Dass Ondaatje seinen neuen Roman nun am 12. September im Literaturhaus vorstellt, ist jedenfalls ein schöner Auftakt des Literaturherbstes in München.

Die Prägungen eines Lebens zu verstehen, beschäftigt natürlich nicht nur Ondaatje, sondern die meisten Schriftsteller. Es klingt nur immer unterschiedlich. Helene Hegemann zum Beispiel, die einen Ruf als Enfant terrible der deutschen Literaturszene zu verteidigen hat, wird am 25. September im Literaturhaus ihren neuen Roman "Bungalow" vorstellen. Über die Liebe kann man darin Sätze lesen wie: "Mein Oberkörper liegt auf der Waschmaschine, Georg steht hinter mir, ich trage die horizontal gestreifte Strickjacke, in der Maria normalerweise den Müll wegbringt, und muss an das Blut und die Hautfetzen denken, die nach dem Scheren der Merinoschafe in ihrer Wolle hängen bleiben, daran, wie man Schafe ins Gesicht schlägt, um ihren Widerstand zu brechen." Und über den Krieg: "Georgs Großvater wurde neun Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs als letzter deutscher Oberstleutnant aus einem russischen Gefangenenlager entlassen und hat dann irgendwann damit begonnen, Georg in verzweifeltem Kummer mit der immer gleichen Geschichte seines Überlebens vollzulabern." Das ist, verglichen mit Ondaatje, so in etwa das andere Ende eines breiten Spektrums.

Man kann vom Nationalsozialismus natürlich auch erzählen, indem man sich mit dem "Verschwinden des Josef Mengele" beschäftigt, wie der französische Autor Oliver Guez (Literaturhaus, 1. Oktober). Oder indem man das Schicksal einer Sinti-Familie nachzeichnet, wie Ursula Krechel in "Geisterbahn" (Lehmkuhl, 4. Oktober).

Der Holocaust ist auch die düstere Folie, auf der Michael Köhlmeier seinen vielschichtigen Roman "Bruder und Schwester Lenobel" entwirft (Literaturhaus, 26. September). Denn seine psychologisch fein differenzierende Familiengeschichte stellt ebenfalls die Frage nach Prägungen. Warum findet der narzisstische Psychiater Robert erst mit 50 die Liebe, um sie dann wegzustoßen? Warum führt seine schöne und clevere Schwester Jetti ein Leben mit ständig wechselnden Liebhabern? Vielleicht hat es damit zu tun, dass die Großeltern als Juden im KZ ermordet wurden, die Mutter mit einem Kindertransport nach England geschickt und später depressiv wurde - und die Kinder sich daher schwer damit tun, ein Gleichgewicht zu finden.

Wie die Vergangenheit mit der Gegenwart zusammenhängt, beschreibt Frido Mann in "Das Weiße Haus des Exils"; darin geht es um das Haus in Pacific Palisades, das Thomas Mann nach seiner Flucht vor den Nazis bewohnte (Literaturhaus, 18. September). Wer die Probleme der Gegenwart besser verstehen will, ist vermutlich auch bei einem Vortrag des US-amerikanischen Forschers Ibram X. Kendi über Rassismus richtig (NS-Dokuzentrum, 27. September). Ausschließlich in die Zukunft gerichtet dagegen ist der neue Roman von Frédéric Beigbeder, dem amüsanten Narziss der französischen Literatur. Er will sich im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen nicht mit der Vergangenheit beschäftigen, sondern seine eigene Gegenwart verlängern: Er will, bitte schön, nicht sterben, sondern "Endlos leben" (Literaturhaus, 8. Oktober). Klingt stark nach der Lebenskrise eines 50-Jährigen; bildlich könnte man sich einen Mann vorstellen, der wild fuchtelnd auf einem Bein balanciert, in einem bedenklich prekären Gleichgewicht.

Michael Ondaatje, Mittwoch, 12. September, 20 Uhr, Literaturhaus (bereits ausverkauft)

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