Gedichte von Christine Nöstlinger:Vom Meiabuam und seinem Goldfisch

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Ja, der Goldfisch der Familie Meier möchte der Bua gern sein. (Foto: N/A)

Gut, dass ein posthumer Band mit Mundart-Gedichten von Christine Nöstlinger erscheint. Darin taucht ein alter Bekannter auf. Aber, oh Gott, was ist aus ihm geworden?

Gastbeitrag von Clemens J. Setz

Selbst in jener finsteren Epoche zwischen meinem zehnten und meinem sechzehnten Lebensjahr, in der ich nicht ein einziges Buch las, las ich Christine Nöstlinger - und zwar in der Erinnerung. Das war mir leicht möglich, denn als Kind hatte ich ihre Bücher gründlich absorbiert. So fühlte es sich für mich entschiedenen Lesegegner im Nachhinein an. Ihre Bücher musste man ja nicht lesen - denn Lesen hasste ich, es verursachte mir Juckreiz, Seelenunruhe und Beinzappeligkeit. Aber Bücher von der Nöstlinger musste man einfach nur aufschlagen und dann ging alles von allein.

So bildeten sie ein stilles, sicheres Fundament, von dessen Existenz ich später, als weitgehend sprachentwöhnter und mönchisch weltferner Teenager, in bestimmten Momenten zehren konnte. Dass ich sogar seit der Kindheit einige ihrer Verse auswendig konnte, noch dazu im Dialekt, wurde mir erst viel später klar. Denn diese Verse wirkten überhaupt nicht wie Lyrik, aus deren abschreckenden Zeilen man bei Schularbeiten das Versmaß herauszuklopfen hatte, ja sie wirkten nicht einmal wie Songlyrics, sie waren einfach Monologe von Stimmen, die mir familiär und nachbarlich vertraut vorkamen.

Unlängst war ich nach Amerika eingeladen. Das ist ein sehr eigentümliches Land. Doch immerhin durfte ich dort vor ein paar versammelten amerikanischen Germanisten in einem Uniseminar einige mir am Herzen liegende Texte der österreichischen Literatur aufsagen und hinterher kommentieren. Ich wählte also Mayröcker, Herbeck, Edmund Mach - und am Ende mein Lieblingsgedicht, aus dem Band "iba de gaunz oamen leit" von Christine Nöstlinger. Es heißt "wos i ma winsch" und handelt von einem Jungen namens Bua. So wird er immer gerufen. Und wie die meisten von uns wünscht er sich, jemand anders zu sein. Schließlich haben es alle auf Erden besser als er. Selbst die Tiere der Familie, die Katze, der Hund und, ganz besonders, der Goldfisch. Ja, der Goldfisch der Familie Meier möchte er sein:

Daun grinsad i

mid mein Fischmeu ausse aufd Meia

do meine Fischaugn schauadn

draurig auf den Meia,

der wos vun de Meia da klanste is,

und i dengad ma:

Oama Bua!

Die österreichische Schriftstellerin Christine Nöstlinger, die im vergangenen Juni gestorben ist. (Foto: dpa)

Wie herrlich war das, dieses Gedicht aufzusagen, so fern von zu Hause, als Botschafter einer unserer verständigsten und klügsten Dichterinnen. Nach ihrem Tod fühlte sich alles ein wenig entseelter an. Natürlich kehrt diese große Seele für die Dauer der Lektüre ihres nun posthum erschienenen Gedichtbands "ned dasi ned gean do warat" wieder zurück, aber leider ist dieser Band schmerzlich kurz, wie soll man das aushalten, nur rund 50 Seiten Gedichte. Aber gut, vielleicht war nicht mehr da.

Es ist der alte Ton der drei "oamen"-Gedichtzyklen (kinda, fraun, mauna) und in dem ist man als Leser schnell zu Hause:

Bei uns im Bau

und nemau

Tia aun Tia

lem Leid wie mia

Auf jeder Seite werden Rätsel gelöst. Zum Beispiel erfahren wir, was es mit den vielen Kindertoden in den Wiener Bezirken auf sich hat. Überall fallen Kinder aus den Fenstern. Natürlich ist das nur folgerichtig. Denn was ersparen sie sich damit? Alles, das heißt "sibzg grodngrausliche Joa", und unter anderem:

des Unglik

mid da hasn Liebe auf easchdn Blik,

und aum End

foasd mit woglade Gnia und zidrige Hend

den Roladoa spazian.

Kein Wunder, dass sie sich alle frühzeitig verabschieden. Ich nickte sehr viel, als ich dieses Buch durchblätterte. Und dann, an einer Stelle, blieb mir das Herz stehen: "Da Meia is echa so a Schdüla." Auf der zum Gedicht gehörenden Illustration sieht man einen älteren Mann, der, sich die Stirn haltend, vor einem riesigen Goldfischglas hockt. Oh Gott. Da war er wieder. Es gibt ihn noch immer. Den Meiabuam. Nun ist der allerdings älter geworden, erwachsen, er hat in der Welt gelebt. Und es haben sich in ihm Meinungen herangebildet. Er hat immer noch einen Goldfisch. Auf diesen spricht er, wie die allerorts lauschenden Nachbarn zu berichten wissen, stundenlang ein:

Und hoid eam launge Redn

ibad Besn und ibad Bledn

und wosa denen dedad

wauna d Mochd dazua hedad.

Daschiasn, dastechn, dawiagn,

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Von SZ-Autoren

do kaunst de Ganslhaud griagn.

Kein Wunder, dass sein Goldfisch inzwischen fast groß wie ein Wels ist. Denn dieser Goldfisch ernährt sich, so zumindest deute ich mir das Bild, seit Jahrzehnten ausschließlich von den geäußerten Ansichten des Meiabuam. Bald wird er größer sein als das Haus.

Ich kann nicht behaupten, dass ich schon immer gefühlt hätte, dass genau das im kleinen Meia aus "wos i ma winsch" geschlummert hat, die entschlussfeste Gewaltbereitschaft eines Mannes, der schon immer, sozusagen schon vom Anbeginn aller Zeiten, für seine eigenen Ansprüche zu wenig Macht besaß. Man kennt ihn. Gelegentlich wird in Zeitungen dazu aufgefordert, doch auf seine Ängste einzugehen. In der Zwischenzeit schöpft man, da einem sonst nicht viel übrig bleibt, in Bezug auf ihn Verdacht.

Owa nur wegn an Vadochd

hod d Polizei no nia wos gmocht.

De greifd easchd ei, waun wos basiad.

Ka Aunung, wos uns vum Meia no bliad.

Ja, der Meia, der Gefangene seines ungeheuren Goldfisches. Wie er nun wieder gedeiht in unserem Land. Er ist unser Nachbar, unser Partner, unser Kanzler. Er schaut uns bisweilen auch aus dem Spiegel entgegen. Ein zu allem Fähiger, ein Entschlossener, ein Mann der generalisierten Rachepläne und der panischen Reflexe. Er allein ist, um mit Bertolt Brecht zu sprechen, unsere Zukunft - und die sieht so aus.

Christine Nöstlinger: ned dasi ned gean do warat. Gedichte. Residenz Verlag, Salzburg 2019. 77 Seiten, 18 Euro.

Von dem Schriftsteller Clemens J. Setz aus Graz erschien zuletzt der Erzählungsband "Vom Trost runder Dinge" (Suhrkamp Verlag).

© SZ vom 03.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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