Süddeutsche Zeitung

Literatur aus Israel:Wie komme ich zum Rabin-Platz?

Abraham B. Yehoshuas Roman "Der Tunnel" ist eine Liebesgeschichte mit politischen Ambitionen.

Von Alexandra Föderl-Schmid

Wie viel Biografisches steckt in diesem Buch von Abraham B. Yehoshua? Diese Frage drängt sich während der Lektüre seines jüngsten Romans "Der Tunnel" immer wieder auf. Der in Israel salopp A. B. genannte 83-jährige Schriftstellers erzählt darin die Geschichte des pensionierten Straßenbauingenieurs Zvi Luria, der zuerst die Vornamen vergisst und dann ein falsches Kind aus dem Kindergarten mitnimmt, in dem er regelmäßig seinen Enkel abholt.

Es beginnt ein Kampf gegen das Vergessen, den Zvi gemeinsam mit seiner Ehefrau Dina, einer praktizierenden Kinderärztin, angeht. Die erwachsenen Kinder, eine Tochter und ein Sohn, reagieren sehr unterschiedlich auf die Krankheit des Vaters. Hilflos aber sind sie alle. Den Prozess verlangsamen soll Zvis Einsatz bei einem geheimen Straßenbauprojekt in der Wüste. Im Weg steht ein Hügel, auf dem eine palästinensische Familie lebt, die nicht entdeckt werden darf. Deshalb soll ein Tunnel her - um das Problem zu lösen.

In der Dina des Romans ist Ika zu erkennen, Yehoshuas Frau. Der Schriftsteller und die Psychologin galten in Israel als symbiotisches Paar, das fast immer gemeinsam unterwegs war. Dann ging diese Beziehung nach 56 Jahren ganz plötzlich zu Ende. Zwischen der Krebsdiagnose und Ikas Tod lagen nur drei Monate. Ihr hat Yehoshua das Buch gewidmet, wie alle seine Werke. Nur hat er diesmal ihr Geburts- und Sterbejahr sowie die Worte "Unendliche Liebe" hinzugefügt.

Das Schreiben an diesem Buch habe ihn am Leben erhalten, erzählt Yehoshua in Interviews. Wie Ika wird seine Figur Dina plötzlich krank und ihr Mann sorgt sich um sie. Die Ereignisse im Krankenhaus werden detailgetreu geschildert, hier fließen die Erlebnisse des Autors ein. Die Dialoge widerspiegeln die Erfahrungen eines langen, gemeinsamen Lebens. Liebevoll werden die Schrulligkeiten des jeweiligen Partners skizziert, über die man nach vielen Jahren hinwegsieht. So ist der Roman auch eine famose Liebesgeschichte und beschreibt eine solide, glückliche Beziehung.

Das Abgleiten der Hauptfigur in die Vergesslichkeit ist ein Prozess, den der Autor bei seinem Freund, dem Schriftsteller Jehoshua Kenaz, miterlebt hat. Immer häufiger hat Zvi Schwierigkeiten, den Weg zurück nach Hause zu finden. Der 72-Jährige orientiert sich am Rabin-Platz in Tel Aviv. Den ermordeten Ministerpräsidenten Jitzchak Rabin hat der Friedensaktivist Yehoshua stets als Orientierungsfigur gesehen und Repräsentanten der Hoffnung, dass es doch einen Staat für die Palästinenser neben Israel geben könnte.

Seit Jahrzehnten setzt sich Yehoshua in Israel für die Zweistaatenlösung ein

Wenn er den Weg nicht mehr weiß, ruft Zvi einen Freund an und fragt ihn diskret aus, bis dieser ihm seine Adresse verrät. Es gibt auch komische Szenen, als sich Zvi während einer Opernaufführung auf die Bühne verirrt, weil er nach der Pause nicht mehr zurück auf seinen Platz findet. Seinen zunehmenden Gedächtnisverlust versucht Zvi vor seiner Umgebung möglichst zu verbergen. Lange hält er auch daran fest, weiter mit seinem Auto zu fahren.

Dem jungen Straßenbahningenieur, der in seinem früheren Büro sitzt, gibt Luria aber rasch Einblick darüber, wie es wirklich um ihn steht - wobei seine Tage abhängig vom Krankheitsverlauf nicht gleich sind. Der erfahrene Ingenieur soll ihm helfen, im Mitzpe-Ramon-Krater in der Negev-Wüste einen Tunnel genehmigt zu bekommen, um einen Hügel nicht abtragen zu müssen. Denn dort wohnt eine aus dem Westjordanland stammende palästinensische Familie: Vater und Tochter, die sich in Israel allerdings ohne gültige Papiere aufhalten. Ob den jungen Ingenieur und die Palästinenserin mehr verbindet, bleibt offen. Wie so vieles in diesem Buch.

Zwar blitzen in den Dialogen immer wieder sein feiner Witz und seine barocke Sprachkunst auf, doch wirkt die Handlung konstruiert, das Ende absehbar: Die Straße führt ins Nirgendwo. Man kann das Buch als Beschreibung Israels auslegen, die Demenz als Symptom einer ganzen Gesellschaft. Doch gelingt es Yehoshua hier, anders als sonst in seinem Werk, nicht, die Störungen seiner Charaktere mit der Realität der Region zu verknüpfen. Ein absurd wirkender Tunnel mitten in der Wüste soll die Lösung des Problems zwischen Israelis und Palästinensern sein? Das wirkt selbst in einem Roman überzogen.

Yehoshua hat sich seit Jahrzehnten für eine Zweistaatenlösung, also einen eigenen Palästinenserstaat, eingesetzt. Als er vor einem Jahr plötzlich seine Stimme erhob für einen einzigen Staat, in dem Israelis und Palästinenser als gleichberechtigte Bürger leben, sorgte das für großes Aufsehen. In Israel haben seine Worte Gewicht, sein Name wird in einem Atemzug mit David Grossman und dem 2018 verstorbenen Amos Oz genannt, mit dem ihn eine lange Freundschaft verbunden hat. In Israel erreichen Yehoshuas Bücher Massenauflagen, in Deutschland stand er stets im Schatten von Grossman und Oz. Der Durchbruch wird ihm auch mit diesem Buch nicht gelingen, das zu viel will und dem die erzählerische Kraft fehlt - auch das mag mit Yehoshuas Lebenssituation zu tun haben.

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SZ vom 19.02.2020
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