Süddeutsche Zeitung

Literatur aus England:Die Blutspur

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"Eine treue Frau" heißt der zweite Band von Jane Gardams gefeierter"Old Filth"-Trilogie. Die Kinder des britischen Empire haben wie dieses selbst keine Zukunft, stattdessen öffnet sich der Blick in einen schwarzen Abgrund.

Von Lothar Müller

Spitznamen wollen meist witzig sein. Und sie werden in der Regel nicht von dem erfunden, der sie trägt. Das hat sich die englische Autorin Jane Gardam zunutze gemacht, als sie die Zentralfigur ihrer "Old Filth"-Trilogie erfand, den Anwalt Edward Feathers, der in Hongkong Karriere gemacht hat, früh zum Kronanwalt ernannt wurde und seinen Ruhestand in Dorset verbringt, in ländlicher Abgeschiedenheit, aber nah genug an London, um nicht in der Stadt übernachten zu müssen, wenn er mit seiner Frau dorthin reist, um endlich sein Testament zu machen.

"Filth", so haben ihn die Kollegen genannt, weil er als Ursprung der witzigen Formel "Failed in London Try Hongkong" gilt, und irgendwann mit den Jahren kam dann das "Old" hinzu. Es stimmt nichts an diesem Spitznamen. Der Schmutz und Unrat, der im "Filth" steckt, passt nicht zur korrekten Erscheinung des gut aussehenden Anwalts, und schon gar nicht passt zu ihm die Blickrichtung vom Zentrum des Empire aus auf den Fernen Osten. Edward Feathers ist nicht nach Asien aufgebrochen, er ist dorthin zurückgekehrt. Seine Muttersprache ist nicht Englisch, sondern das Malaysisch seiner frühen Kindheit, er gehört zu den "Raj Orphans", den Kindern der britischen Kolonialbeamten, die im Alter von vier oder fünf Jahren zur Erziehung nach England geschickt wurden.

Rudyard Kipling hatte eine solche Kindheit, in "Something of Myself" und der Erzählung "Baa Baa Black Sheep" trägt sie bittere Früchte. Jane Gardam hat ihren Edward Feathers nach diesem Modell entworfen, und die Figuren ihrer Trilogie wissen das. Er hatte eine ähnliche Kindheit wie Kipling, sagen sie von Old Filth, der Anfang der Zwanzigerjahre in Malaya geboren wurde, die Übergabe Hongkongs 1997 noch erlebt und im frühen 21. Jahrhundert stirbt, als Relikt des Empire.

Jane Gardam wurde 1928 in North Yorkshire geboren, begann erst mit 43 Jahren zu publizieren und hatte mit "Old Filth" in England großen Erfolg. Hierzulande bisher vollkommen unbekannt, hat sie seit dem Herbst, als der erste Band der Trilogie unter dem Titel "Ein untadeliger Mann" auch auf Deutsch erschien ( SZ vom 28.12.2015), auf Anhieb ihr Publikum gefunden. Ein ganzes Leben breitete dieser Auftaktband aus, in kunstvoll verschachtelter Chronologie aufgespannt zwischen Alter und Jugend, in der dritten Person und zugleich aus dem Inneren der Zentralfiguren heraus erzählt, in ständiger Verschränkung des erinnerten und des gelebten Lebens.

Die Fortsetzung rückt nicht in der Zeit voran, sie rückt in die Figuren hinein

"Old Filth", das spielt schon im Titel mit der Aura des Anachronistischen, aber dieser Edward Feathers ist nur zum Schein aus der Zeit gefallen. Wenn er im Krankenhaus liegt, umgeben von lauter nicht-weißen Ärzten und Krankenpflegern, die auf ihn herablächeln, blickt er in die Gesichter des aktuellen England, und zugleich lebt in ihm das Kind fort, das er war, der Sohn einer kurz nach seiner Geburt gestorbenen Mutter und eines aus Schottland stammenden Vaters, der sein Trauma aus dem Ersten Weltkrieg mit in den Fernen Osten nahm und am Ende des Zweiten Weltkrieges als Kriegsgefangener der Japaner im Lager Changi östlich von Singapur starb.

Nicht nur die englische Sprache hat Edward Feathers lernen müssen, sondern die gesamte "Englishness", an der er, konservativ vom Scheitel bis zur Sohle und zeitlebens Leser des Daily Telegraph, bis zum Tod festhält. Die Kunst Jane Gardams ist an der kriminalistischen Subtilität Jane Austens im Blick auf Ehen und Eheanbahnungen geschult, an den seltsamen Zufällen bei Charles Dickens, an Kipling und an E. M. Forster.

Die Formen der Kunst müssen nicht zerfallen, um den Zerfall in sich aufnehmen können. Jane Gardam macht die verkapselten Verletzungen und Traumatisierungen ihrer Figuren erkennbar, ohne sie je mit dramatischer Wucht die Konventionen des äußeren Lebens durchstoßen und zum Einsturz bringen zu lassen. Und auch die Romanform wahrt die Form, während sie tiefe Verletzungen und das Gift der Resignation in sich aufnimmt.

Lange umkreist der erste Band den schwarzen Abgrund in der Kindheit von "Old Filth", ehe er den Blick in die Tiefe freigibt. Wie ein Archipel über unsicherem Grund liegen die Dialoge im Meer des Ungesagten. Der Leser tut gut daran, auf die Dinge - Uhr, Perlenkette, Schirm, Tulpenzwiebel - zu achten. Sie sind stumme Zeugen, die wissen, was die Dialoge verschweigen. Der zweite Band der Trilogie, er heißt im Original "The Man in the Wooden Hat" ist immer noch nah an Old Filth, aber noch näher kommt er seiner Frau Elizabeth, genannt Betty. Der deutsche Titel "Eine treue Frau" enthält die Außensicht auf die Figur. Der Roman wird sie, wie bei Old Filth, unterminieren.

Jeder dieser Romane ist für sich lesbar, aber sie sind eng ineinander verflochten. Denn in dieser Trilogie beginnt der zweite Band nicht dort, wo der erste endet. Sie rückt nicht in der Zeit voran, sie rückt in ihre Figuren hinein. Nichts hat sich an den Schauplätzen geändert. Noch einmal stirbt Old Filth den Tod, den er im ersten Band gestorben ist, noch einmal stirbt auch Betty, die im Alter zur hingebungsvollen Gärtnerin geworden ist, beim Einpflanzen der neuen Tulpenzwiebeln. Und doch ist alles anders, denn das Leben ist ein anderes geworden, es treten nun Seiten hervor, die früher im Schatten lagen.

Einmal, noch in jungen Jahren, fällt in diesem zweiten Band Old Filth kurzzeitig in Ohnmacht, als bei Betty ein Krebsverdacht diagnostiziert wird. So, wie Jane Gardam das erzählt, wird darin das Grundmuster dieser Ehe greifbar, ohne dass die Erzählerstimme das erläutern muss. Betty ist für Old Filth nicht die große Liebe, sondern der große Halt. Ohne sie würde er zusammenbrechen. Und umgekehrt ist es ähnlich. Auch Betty, in China geborene Schottin, ist ein Waisenkind, das in England nie vollständig ankommt, sie braucht die Ehe mit dem erfolgreichen Kronanwalt, aber die große Liebe, die sie unmittelbar nach der Verlobung in Hongkong erlebt hat, wird nie ganz Vergangenheit. Und diese Liebe war nicht Edward Feathers, sondern dessen Widersacher und Konkurrent in vielen Prozessen, Terry Veneering.

Er trägt den Namen eines windigen Neureichen aus einem Dickens-Roman. Aber er geht in diesem Namen so wenig auf wie Edward Feathers in Old Filth. Im ersten Band war mit ihm das vage Gerücht einer lang zurückliegenden Affäre mit Betty verbunden, und nach Bettys Tod wurde er zum Nachbarn von Old Filth in Dorset. Nun tritt mit der Jugend Bettys diese Affäre aus dem Schatten, und der dritte, noch nicht übersetzte Band wird Terry Veneering vollends in den Mittelpunkt rücken. Sein haltloser, liebenswerter Sohn ist schon hier eine der Hauptfiguren. Kern der Trilogie ist aber nicht die Dreiecksgeschichte, sondern das Kaleidoskop von Innenansichten der Englishness im niedergehenden Empire. Es versammelt eine Fülle von Kindern und Kindeskindern des Empire, darunter so hinreißende wie den Trickster und Kartenspieler Albert Ross oder die zwischen den Geschlechtern wandernde erste Geliebte von Old Filth.

Zum Abgrund aber wird in diesem zweiten Band die Kinderlosigkeit der Ehe von Old Filth. Von ihrer Kindheit gezeichnet, haben sie, wie das Empire, keine Zukunft. Ins Innere Bettys führt eine Blutspur. Der Abgrund öffnet sich unter Dialogen wie diesem: ",Ach, ich weiß nicht. Irgendwie waren wir beide nicht besonders auf Kinder fixiert. Wir wussten nichts über Kinder. Wir haben beide keine Geschwister. Der arme Filth war Raj-Waise, und meine Eltern sind sehr früh gestorben. Wir hatten keine Ahnung.' ,Aber eure Ehe ist so großartig.' ,Das kann sie ja auch bleiben.' ,Du musst ja selbst noch ein Kind gewesen sein, als ihr geheiratet habt. So jung.' ,Ja', sagte Elizabeth immer. ,Das war ich.'"

Auch diesen zweiten Band der Trilogie hat Isabel Bogdan mit Sinn für den Ton diskreter Enthüllung übertragen. Ganz so dicht wie der erste wirkt er nicht, weil hier das Spiel mit den Zeitschichten und Rückblenden weniger kunstvoll ausfällt. Aber nun sind wir gespannt auf den Abschluss: denn Terry Veneering ist der Widerpart des Typs von Englishness, den Old Filth dem Zerfall des Empire entgegensetzt.

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Quelle:
SZ vom 15.03.2016
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