Süddeutsche Zeitung

Literatur:Auch für die Nazis war es nicht das letzte Wort

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Othmar Plöckingers akribische Geschichte von Adolf Hitlers "Mein Kampf" versucht, die These vom ungelesenen Bestseller zu widerlegen.

Hans Mommsen

Wäre Adolf Hitler nicht zum allmächtigen Diktator aufgestiegen, wäre seine autobiografische Studie, die 1925 und 1926 in zwei Bänden unter dem Titel "Mein Kampf. Eine Abrechnung" erschien, in den Hinterzimmern der Antiquariate vermodert. So aber wurde das Buch zum millionenfach gedruckten, allerdings kaum gelesenen Bestseller.

Othmar Plöckinger hat sich diesem Gegenstand in einer umfangreichen Darstellung zugewandt, die zahlreiche bislang unbekannte oder unbeachtete Details enthält und die vergleichsweise umfangreiche Spezialliteratur in vielen Details korrigiert.

Einleitend räumt er ein, dass er ursprünglich eine Quellenstudie angestrebt hatte, dass aber dieses Desiderat nicht realisierbar war, da Manuskripte oder Druckvorlagen für die einzelnen Teile von "Mein Kampf" nicht mehr vorhanden sind (und vielleicht nie vorhanden waren).

Stattdessen konzentriert sich seine akribische Untersuchung auf die Entstehung, die Publikationsformen und die zeitgenössische Rezeption von "Mein Kampf" in Deutschland und Österreich sowie in Großbritannien, Frankreich, den USA und der UdSSR.

Plöckinger hat das grundlegende Verdienst, die einzelnen Entstehungsphasen des Manuskriptes in den Zusammenhang mit den innenpolitischen Vorgängen zu stellen. Damit wird deutlich, dass der Text von "Mein Kampf" keineswegs einer geschlossenen inhaltlichen Konzeption Hitlers als Schriftsteller entsprang, sondern jeweils wechselnde innenpolitische Konflikte widerspiegelt, die mit der Neugründung der NSDAP von 1925 und der Durchsetzung seines Führungsmonopols zusammenhängen.

Es spielen aber Rücksichten auf die Absicht der bayerischen Staatsregierung hinein, ihm die deutsche Staatsangehörigkeit zu entziehen und ihn nach Österreich abzuschieben. Diese komplexen Entstehungsbedingungen erklären den weitgehend unsystematischen Charakter und die häufigen Redundanzen des Textes.

Keine Vorstufen

Der Autor weist nach, dass es faktisch keine Vorstufen zu "Mein Kampf" gegeben hat. Die Idee dazu entstand spontan, aufgrund der Anregungen von Mithäftlingen in Landsberg und Besuchern, wobei das Motiv einwirkte, Hitler zu beschäftigen und seine unaufhörlichen Tiraden zu beenden, mit denen er seiner Umgebung auf die Nerven fiel.

Die Quittung bestand freilich darin, dass Hitler sie jedenfalls in der ersten Zeit mit der Verlesung der eben fertiggestellten Kapitel beschäftigte. An die Stelle der ursprünglich geplanten "Abrechnung" mit den "Novemberverbrechern" trat nun eine autobiografische Darstellung, zu der ihn neben anderen Rudolf Heß ermutigte.

Mit dieser Akzentverschiebung setzte sich dann der Titel "Mein Kampf" schließlich durch, wenngleich im Untertitel "Eine Abrechnung" die ursprüngliche Absicht durchschimmerte, mit den Gegnern von 1923, als Hitler seinen Putsch in München versuchte, abzurechnen.

Den Gedanken, einen zweiten Band zu veröffentlichen, der ursprünglich für Ende 1925 angekündigt worden war, führt Plöckinger weniger auf finanzielle Motive als darauf zurück, dass Hitler auf die sich zuspitzenden Auseinandersetzungen zwischen den Nachfolgeorganisationen der NSDAP Einfluss zu nehmen beabsichtigte. Dabei trat die Südtirolfrage in den Vordergrund, die er nicht zuletzt hochspielte, um sich damit von den konkurrierenden völkischen Gruppen abzuheben.

Mit der Distanzierung von Gregor Strasser und der nordwestlichen Gruppe der NSDAP sowie der Neugründung der Partei gewann der zweite Band seine endgültige Form. Er war in großem Umfang durch das Bestreben der programmatischen Abgrenzung vom Strasser-Flügel und der Ablehnung der von der Parteilinken geforderten Gewerkschaften geprägt.

Plöckinger geht eingehend auf die Rolle der Mitarbeiter und Berater Hitlers für die Endfassung der Manuskripte ein, insbesondere derjenigen von Josef Stoltzing-Cerny, der hauptsächlich als Sekretär fungierte, sowie von Emil Maurice und Rudolf Heß.

Dessen Mitwirkung an der Niederschrift von "Mein Kampf" stellt Plöckinger, im Gegensatz zur bisherigen Forschung, als Legende bloß. Stattdessen betont er, dass Hitler die Manuskripte weitgehend selbstständig verfasst und diese erst nach der Fertigstellung Mitarbeitern wie Heß zur Korrektur vorgelegt hat.

Bemerkenswert ist jedoch, dass sich zwar die erste Auflage von "Mein Kampf" vom Sommer 1925 gut verkaufte, der im folgenden Jahr erschienene zweite Band jedoch nur schleppend absetzen ließ und der Absatz nach 1927 empfindlich zurückging, um erst seit 1930 deutlich anzusteigen. Die Auflagenzahlen nahmen, mit einer gewissen Abflachung 1940 und 1941, sprunghaft zu, sodass 1944 zwölfeinhalb Millionen Exemplare trotz des relativ hohen Preises ausgeliefert wurden.

Den Hintergrund dazu bildeten die von Plöckinger eingehend untersuchte "Inszenierung" als Herrschaftssymbol und die subventionierte Absatzförderung durch den Parteiapparat und die staatliche Verwaltung einschließlich der Reichswehr.

Keine Pflichtlektüre in der Schule

Plöckinger weist nach, dass "Mein Kampf" nicht in die Liste der von den Schülerbüchereien anzuschaffenden Titel aufgenommen wurde und dass sich einige Kommunen, so auch Leipzig unter Carl Goerdeler, erfolgreich sträubten, die Kosten für die Überreichung von "Mein Kampf" an frischvermählte Ehepaare zu tragen.

Plöckinger analysiert die trotz des Drucks von Seiten des Eher-Verlages sinkenden Erwerbungsziffern durch öffentliche Bibliotheken. Aber der auf Beamte und Funktionäre ausgeübte Druck, das Buch anzuschaffen, kompensierte diese Widerstände.

Entscheidend ist jedoch die Frage, wie weit aus der zahlenmäßigen Verbreitung von Hitlers "Mein Kampf" verlässliche Rückschlüsse auf die Zahl der tatsächlichen Leser gezogen werden können. Plöckinger versucht anhand erhaltender Ausleihlisten von öffentlichen Bibliotheken den Nachweis zu erbringen, dass Hitlers Buch auch die breite Leserschaft erreicht hat.

Die ausgewerteten Ausleihzahlen lassen es jedoch schwerlich zu, von einem überdurchschnittlichen Interesse der Benutzer zu sprechen, und deuten vielmehr daraufhin, dass das Interesse daran seit Mitte der dreißiger Jahre weitgehend zum Erliegen kam. Die exorbitanten Absatzziffern in den letzten Kriegsjahren verlangen andere Erklärungen, wie der Autor selbst einräumt. Es ist immerhin grotesk, dass der Eher-Verlag seine Monopolstellung auch unter Kriegsbedingungen bis zuletzt ausgereizt hat.

Plöckinger kämpft gleichwohl unverdrossen gegen die vorherrschende These an, dass Hitlers Buch nur von wenigen Zeitgenossen wirklich gelesen worden ist, sehr im Unterschied zu den siebziger und achtziger Jahren. Seine Darstellung selbst spricht aber nahezu durchweg für die These vom "ungelesenen Bestseller".

Dafür ist charakteristisch, dass das Buch, wie der Autor überzeugend hervorhebt, zwar als "Ikone" fungierte, gleichzeitig aber, auch im Zusammenhang mit der Entscheidung, nach 1932 keine Änderungen mehr vorzunehmen, aus der Erörterung der laufenden Politik gleichsam herausgenommen und auch von NS-Ideologen nur selten zitiert wurde.

Die Auffassung, dass "Mein Kampf" nicht wirklich gelesen werde, findet sich bereits bei Hitlers eigenen Parteigängern, die das Buch mit einer gewissen Geringschätzigkeit betrachtet zu haben scheinen. Dies auf Eifersucht wegen seiner ungewöhnlichen Erfolge zurückzuführen, wie Plöckinger nahelegt, greift zu kurz.

Bedeutung heruntergespielt

Es ist vielmehr symptomatisch, dass jene führenden Nationalsozialisten, die sich eine gewisse Distanz zu Hitler bewahrten, vielfach Zweifel an der politischen Substanz des Buches äußerten und jedenfalls nicht davon überzeugt waren, dass die Darstellung der Ziele und Grundsätze der NS-Bewegung durch Hitler das letzte Wort darstelle.

Exponenten der NS-Propaganda wie Goebbels oder Rosenberg vermieden es, wie Plöckinger berichtet, "Mein Kampf" überhaupt zu erwähnen. Dass der Kreis um Strasser dessen Bedeutung bewusst herunterspielte, hat richtungspolitische Gründe und leuchtet unmittelbar ein. Aber auch ein weniger parteiischer Beobachter wie Konrad Heiden äußerte sich eher abschätzig über Hitlers Werk.

Das Buch entwickelte sich zwar zur Ikone, wurde aber nicht zur Grundlage einer ernsthaften Erörterung der Ziele der NS-Bewegung. Die sakrosankte Stellung des Diktators im Regime entsprach nicht seiner Einschätzung in den Kreisen der Satrapen, denen Hitlers politische Widersprüche und Inkonsequenzen in der Regel nicht entgingen.

Plöckingers systematische Darstellung der Rezeption des Werkes durch Sympathisanten, Gegner und Außenstehende bestätigt dieses Bild. Schon die Art, wie der Text zustande kam und vor der Drucklegung zahllosen Korrekturen von verschiedenen Händen unterworfen wurde, spricht dafür, dass einigermaßen selbstständig denkende Leser von Stil und Darstellungsform immer wieder abgestoßen wurden und die Stringenz der Gedankenführung mit guten Gründen in Zweifel zogen.

Die vernichtenden Urteile in der bürgerlichen Presse, die den zweiten Band fast gar nicht mehr beachtete, wird vom Autor anschaulich geschildert. Auch Sympathisanten räumten ein, dass das Buch literarische und stilistische Schwächen aufwies.

Bemerkenswert an dem von Plöckinger sorgfältig aufgereihten Kaleidoskop von publizistischen Stellungnahmen zur NS-Propaganda, die "Mein Kampf" vielfach nur beiläufig erwähnen, ist die Tendenz, den rassenantisemitischen Passagen keine ernsthafte Bedeutung zuzumessen und das Hauptaugenmerk den innenpolitischen Ausführungen Hitlers zu widmen.

In den seltensten Fällen begriffen

Als geschlossenes weltanschauliche System ist "Mein Kampf" in den seltensten Fällen begriffen worden; das galt auch für das nationalsozialistische Lager, in dem nur wenig Bereitschaft bestand, sich mit dem als abstrus empfundenen Ideengebäude zu beschäftigen.

Das alles spricht dafür, dass "Mein Kampf" nach der Befriedigung der ersten Lese-Neugier selbst im eigenen Lager nur untergeordnete Beachtung fand. Der Autor belegt dies selbst mit dem Hinweis darauf, dass das Buch im parteiamtlichen Schrifttum nur ausnahmsweise erwähnt wurde.

Wie er dennoch zu dem Schluss gelangt, dass es "völlig verfehlt" sei, aus diesen Indikatoren abzuleiten, dass "Mein Kampf" nicht gelesen worden sei, ist daher schwer begreiflich.

Der abschließende Teil von Plöckingers Geschichte von "Mein Kampf" behandelt die Rezeption in den angelsächsischen Ländern, der Sowjetunion und der Komintern, in Frankreich und Österreich. Hier ist es besonders schwierig, die Auseinandersetzung mit dem NS-Regime und die Reaktion auf Hitlers sakrosanktes Opus zu trennen. Der generelle Befund, dass die Bedeutung von "Mein Kampf" dabei zunehmend zurücktritt, bestätigt aber das bisherige Bild.

Die Prämisse des Autors, der sich auf die Hitler-Interpretation Eberhard Jäckels stützt und dem Diktator ein in sich geschlossenes politisches Weltbild zuspricht, wird durch seine auf einer ungewöhnlich breiten Quellenbasis beruhenden Darstellung eher hinterfragt als gestützt.

Mit Ian Kershaw wird man die "ideologische Antriebskraft" der "wenigen zentralen Ideen" in Hitlers Vision betonen, welche ihm jene Selbstsicherheit und Überzeugungskraft verschafften, die ihn allen Rivalen gegenüber überlegen machte. Aber es wäre verfehlt, darin ein geschlossenes und widerspruchsfreies ideologisches System zu erblicken.

Plöckingers Buch ist eine bemerkenswerte Erweiterung unserer Kenntnis über die psychologischen Grundlagen von Hitlers innerer und äußerer Machteroberung. Dass das Institut für Zeitgeschichte in München dieses Buch veröffentlicht hat, ist verdienstvoll.

Aber es kann das Manko nicht wettmachen, dass ein Einzelner mit dem Versuch überfordert ist, die Grundlagen für die längst überfällige wissenschaftliche Edition von "Mein Kampf" zu legen. Erst eine umfassende textkritische Aufschlüsselung der politisch-historischen Bezüge seiner Darlegungen in "Mein Kampf" vermag den Mythos der ideologischen Originalität und intellektuellen Qualität von Hitlers Suada endgültig auszuräumen.

Dazu wichtige Vorarbeiten erbracht zu haben, ist Othmar Plöckinger hoch anzurechnen. Aber sein Buch kann die notwendige wissenschaftliche Edition von "Mein Kampf" nicht ersetzen. Dieser Aufgabe wird sich das Münchner Institut, für die es in jeder Weise prädestiniert ist, schwerlich entziehen können; dass die bayerische Staatsregierung noch bis zum Jahre 2015 die Urheber- und Verlagsrechte an "Mein Kampf" innehat, sollte kein unüberwindbares Hindernis für eine solche Edition darstellen.

OTHMAR PLÖCKINGER: Geschichte eines Buches: Adolf Hitlers "Mein Kampf" 1922-1945. Eine Veröffentlichung des Instituts für Zeitgeschichte. R. Oldenbourg Verlag, München 2006. 632 Seiten, 49,80 Euro.

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Quelle:
SZ vom 25.8.2006
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