Literatur als Sonde:Was geschah mit Onkel Salomon?

Literatur als Sonde: Eduardo Halfon: Duell. Roman. Aus dem Spanischen von Luis Ruby. Carl Hanser Verlag, München 2019. 110 Seiten, 18 Euro.

Eduardo Halfon: Duell. Roman. Aus dem Spanischen von Luis Ruby. Carl Hanser Verlag, München 2019. 110 Seiten, 18 Euro.

Der guatemaltekische Schriftsteller Eduardo Halfon spürt in seinem neuen Roman dem Geheimnis in seiner eigenen Familie nach. Die Spannung entspringt aber nicht nur dem Stoff, sondern zugleich dem Stil.

Von Rudolf von Bitter

Gleich und Gleich gesellt sich gern, etwaige Folgen tragen die Kinder. Die Eltern des Erzählers tragen das Familiengeheimnis ihrer Väter mit sich herum und rühren nicht daran. Das verbindet. Die Übertragung dieser unerklärten Gefühlserbschaften verursacht dem Sohn Unruhe und Empfindlichkeit. Eduardo Halfon verleiht in seinem Roman "Duell" dem Erzähler die eigene Biografie sowie den eigenen Namen und schildert die Stadien von Neugierde und Misstrauen, das gewissenhafte Beobachten der Familienmitglieder und dann eine Recherche, die von einem Detail seiner Familie ausgeht: Salomon, der Bruder des Vaters, sei als Kind in dem See ertrunken, bei dem sich das Landhaus der Großeltern befindet, der gewohnte Ferienort der Familie.

Als Kinder malen sich Eduardo und sein jüngerer Bruder den Anblick des ertrunkenen kleinen Salomon aus, doch gesprochen wird in der Familie gemäß einem ungeschriebenen Gesetz darüber nie. Neben den gewalttätigen politischen Unruhen im Guatemala der 1970er-Jahre und der Emigration 1981 in die USA hat die Familie wahrlich genug Themen.

Der eine Großvater war 1919 sechzehnjährig mit seiner Familie von Beirut nach Amerika aufgebrochen und über New York, Haiti, Peru und Mexiko nach Guatemala gelangt, unterwegs starb die Mutter, aber zahlreiche bereits emigrierte Verwandte setzten sich für den jungen Mann und seine Geschwister ein. Er war der Vater des kleinen Salomon. Der andere Großvater überlebte diverse Konzentrationslager und kam 1946 als 25-Jähriger nach Guatemala. Ihn beseelt eine Neigung zu Flugzeugen. Zu seinen Besuchen technischer Museen nimmt er seine lustlosen Enkel mit, aber eines Tages beobachtet Eduardo, wie der Großvater das Flugzeug findet, das er suchte, versteht aber noch nicht, was es damit auf sich hat.

Behutsam tastet sich der Erzähler an die Fakten und unklaren Behauptungen heran

Erst bei einer Europareise und mit Recherchen in KZ-Archiven, die er noch nicht einmal geplant hatte, erfährt er, dass sein Großvater in den Heinkel-Werken als Zwangsarbeiter Kriegsflugzeuge bauen musste, während Familienangehörige im Ghetto von Lodz verhungerten. Noch weniger kann Eduardo ahnen, dass sich bei Onkel Salomon ebenfalls ein unschönes, verdrängtes Geheimnis verbirgt. Immer wieder bringen ihn beliebige Ereignisse und Anblicke zurück zum imaginierten Bild des ertrunkenen Kindes, sodass er sich endlich aufmacht und der Sache auf den Grund gehen will. Er muss feststellen, dass es jede Menge Ertrunkene in dem See gegeben hat, nur keinen kleinen Salomon.

Halfons Erzähler tastet sich behutsam an die Fakten und zum Teil widersprüchlichen Behauptungen heran und gleicht sie ab mit seinen Erinnerungen, erzählt dabei von seiner weit verstreuten Familie, amüsiert mit Anekdoten von seinem zwielichtigen Onkel, der den Jungen fasziniert, und der geschäftstüchtigen Tante mit ihrem Souvenirladen in Miami Beach und zieht seine Leser nach und nach in seinen Bann, sodass man ihm den Besuch bei einer Heilerin oder Voodoo-Wahrsagerin, die manche als Hexe bezeichnen, als ganz normal abnimmt, wie auch schon der Gärtner im Landhaus der Großeltern Eduardo gezeigt hatte, wie man zu den Pflanzen ermutigende und schöne Worte spricht, damit sie wurzeln und wachsen.

Jede dieser an sich unwichtigen Einzelheiten bringt eine neue Facette in die Rekonstruktion der Fakten, mal ist es ein Streit des Vaters mit der Tante um eine angebliche Schuld, mal die Vorwürfe an den Onkel, der mit Zeitungsartikeln über sich und seine Straftaten vor dem kleinen Eduardo angibt. Und immer stellt Eduardo seine Fragen, bekommt aber keine oder ungenügende Antworten.

Mit Epikurs Sentenz, dass es für ein und dasselbe Phänomen unterschiedliche Erklärungen geben kann, öffnet er sich sogar noch die Möglichkeit, vielleicht doch nicht alles zu erfahren. Aber dann nimmt der Vater eine Keilerei zwischen Eduardo und seinem Bruder zum Anlass, Salomons Schicksal zu erzählen: Salomon war ein krankes Kind, das von Eduardos Großeltern aus Hilflosigkeit in eine New Yorker Klinik gesteckt wurde, wo es einsam starb und dann auf einem christlichen statt einem jüdischen Friedhof bestattet wurde. Alle fühlen sich deswegen schuldig, obwohl sie, abgesehen von Salomons Eltern, nichts dafür können. Nach dieser Szene, mit der sich die ganze Unruhe und Recherche gewissermaßen erledigt hat, kommt Halfon noch einmal zurück auf eine nächtliche Sitzung bei der Voodoo-Frau, die, wie ein Kater nach dem Rausch, mit Rückenweh und Nackenstarre und einer unwirklich morbiden Szene am See ihr Ende findet.

Bleibt der irreführende Titel: Im Original heißt das Buch Duelo, "Zweikampf" oder "Trauer, Leid". Die Entscheidung für den reißerischen Titel wird die Vertriebsleitung des Verlags begrüßt haben. Wer es liest, kann entdecken, dass es auch ohne Zweikampf geht. Wenn Eduardo am Ende die Fakten herausfindet, sind die nämlich schon längst nicht mehr ausschlaggebend für die Spannung dieses schmalen Buchs. Attraktiv ist die eingehende, feinfühlige und dabei unsentimentale Erzählweise.

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