Literatur:"Viele Menschen sind nicht in der Lage, sich selbst zu retten"

Hanya Yanagihara

"Alle interessanten Kunstwerke sind ein bisschen vulgär", findet die Schriftstellerin Hanya Yanagihara.

(Foto: Emilio Naranjo/dpa)

Mit "Ein wenig Leben" hat die US-Autorin Hanya Yanagihara einen Roman über Missbrauch geschrieben, der zum Bestseller wurde. Ein Gespräch über Gewalt in der Literatur und die USA unter Donald Trump.

Interview von Luise Checchin

Als Hanya Yanagiharas "Ein wenig Leben" 2015 in den USA erschien, schrieb die Zeitschrift New Yorker: "Yanagiharas Roman kann Sie verrückt machen, Sie verschlingen und Ihr Leben übernehmen." Das Buch beginnt harmlos als Geschichte einer Freundschaft zwischen vier jungen Männern in New York. Im Zentrum der Erzählung aber steht Jude, ein hochbegabter junger Mann, dessen grausame Missbrauchsvergangenheit nach und nach offen gelegt wird. "Ein wenig Leben" ist der zweite Roman Yanagiharas, die 1974 in Los Angeles als Tochter hawaiianisch-asiatischer Eltern zur Welt kam. Das Buch wurde in den USA zum Bestseller, eine Verfilmung ist in Planung.

SZ.de: Es kursiert die Geschichte, wonach Sie als Mädchen mit Ihrem Vater eine Leichenhalle besucht haben. Das klingt nach einem eher ungewöhnlichen Ausflug für eine Zehnjährige.

Hanya Yanagihara: Die Geschichte stimmt. Aber es war nicht so, dass ich mich damals besonders für den Tod interessiert hätte. Ich habe schon immer sehr gerne gezeichnet, und mein Vater, der Arzt war, dachte, wenn ich es damit ernst meinte, müsste ich lernen, wie man den menschlichen Körper darstellt. Also schlug er mir zwei Möglichkeiten vor: Ich konnte es entweder aus einem Schulbuch lernen oder eine Freundin von ihm besuchen, die Pathologin war.

Erinnern Sie sich, was in Ihnen vorging, als Sie zum ersten Mal eine Leiche sahen?

Ich weiß noch, wie die Ärztin die Bauchklappe aufdeckte und ich die Muskeln und Organe sah. Ich erinnere mich, dass ich dabei keinerlei Abscheu empfand. Aber das lag weniger daran, dass ich ein außergewöhnliches Kind war, sondern eher daran, dass ich mich an der Ärztin orientierte. Eigentlich war es ihr Verhalten, das mich an dem Tag am meisten beeindruckt hat. Sie war so sachlich im Umgang mit dem Körper und gleichzeitig respektvoll. Für sie war der Körper einfach der Körper. Diese Art von Distanziertheit zu entwickeln, war sehr wertvoll für mich.

In Ihrem Roman "Ein wenig Leben" beschreiben Sie sehr drastisch, was dem menschlichen Körper angetan werden kann: Die Hauptfigur Jude wird von frühester Kindheit an missbraucht. Später ritzt er sich, um seine Vergangenheit im Zaum zu halten. Warum war Ihnen die explizite Darstellung von Gewalt wichtig?

Ich wollte, dass sich bei diesem Buch alles exzessiv anfühlt. Das war einerseits eine künstlerische Entscheidung, eine Art Rebellion gegen aufgeräumte, höfliche Literatur. Aber darin liegt auch die Überzeugung, dass die Leben von manchen Menschen einfach so sind: ausufernd, widersprüchlich und unordentlich.

Manche würden einwenden, dass es mitunter wirkungsvoller ist, Dinge unausgesprochen zu lassen.

In dieser Kritik steckt ja die implizite Überzeugung, dass Gewalt und Literatur nicht zusammengehören. Im Film, im Theater, in der bildenden Kunst gibt es Gewalt. Aus irgendeinem Grund hält sich das Vorurteil, dass explizit beschriebene Gewalt kein geeignetes Thema für die Literatur ist. Aber ich denke, es gibt keine geeigneten oder ungeeigneten Themen. Alles, was der Körper oder der Geist ertragen muss, gehört in die Literatur.

In "Ein wenig Leben" wird Jude sein Trauma nicht los, egal, was er tut. Das widerspricht der zeitgenössischen Erzählung, wonach alles geheilt werden kann, wenn man es nur richtig behandelt. Sie glauben nicht daran?

Nein. Uns wurde beigebracht zu denken, dass alles reparierbar ist und jeder Mensch dazu in der Lage, sich selbst zu heilen. Ich glaube nicht, dass das wahr ist. Diese Erzählung, die in den USA und in großen Teilen des Westens vorherrscht, hat etwas Erdrückendes. Sie verspricht: Wenn du dich nur genug anstrengst, wird es dir irgendwann besser gehen. Aber für viele Menschen stimmt das nicht. Viele Menschen sind nicht in der Lage, sich selbst zu retten, sie haben nicht die Ressourcen dafür oder einfach kein Glück. Aber das heißt nicht, dass sie nicht unsere Sympathie verdient hätten.

"Ein wenig Leben" ist nicht nur ein Buch über Gewalt, sondern auch eins über eine sehr aufopferungsvolle Männerfreundschaft. Sie haben einmal gesagt, für Sie sei Freundschaft eine reinere Beziehung als die romantische Liebe. Warum?

Was ich damit meinte, war, dass wir dazu neigen, die Beziehungen in unserem Leben in eine Hierarchie zu pressen: Erst kommt die Liebe, die Eltern für ihr Kind empfinden, dann kommt die romantische Liebe, anschließend die Liebe zwischen zwei Freunden und am Ende vielleicht die Liebe zu deiner Katze. Aber für mich ist keine dieser Liebesbeziehungen größer als die andere, auch wenn sie alle unterschiedlich sind. Wir haben der Ehe eine enorme Last aufgebürdet, unser Partner soll heutzutage alle Bedürfnisse erfüllen, die wir haben - Liebhaber sein, bester Freund, Gesprächspartner. Dabei war die Ehe viele Jahrhunderte lang eine Zweckbeziehung. Für alles andere gab es Freunde. Ein Freund ist die erste Person, die du selbst wählst. Eine Freundschaft bedeutet Autonomie. Ich denke, das gilt auch heute noch.

Mit einem seiner Freunde überschreitet Jude irgendwann die Grenze zur romantischen Liebe. Überhaupt gibt es im Buch sehr viele unkonventionelle Beziehungsentwürfe, die von der Umgebung aber akzeptiert werden. Ist das eine Gegenwartsbeschreibung oder doch eher eine Zukunftsvision?

In bestimmten soziokulturellen Segmenten unserer Gesellschaft entspricht das der Realität. Die Figuren meines Romans wohnen in New York, und wer dort oder in einer ähnlichen Großstadt innerhalb einer bestimmten Gruppe lebt, muss sich keine Sorgen machen, wegen seines Lebensentwurfs oder seiner Sexualität diskriminiert zu werden. Doch natürlich müssen diese Menschen ihre Gruppen mitunter verlassen, zur Arbeit gehen und so weiter. Und dort draußen sieht ihre Situation anders aus.

Sie wohnen heute in New York, aber Sie haben auch im konservativ geprägten Texas gelebt. Verstehen Sie, was die Menschen dort und anderswo angetrieben hat, Trump zu wählen?

Ja und nein. Ich bin unter diesen Menschen aufgewachsen und es wäre zu einfach, wenn man sagen würde, dass sie alle Rassisten und Fanatiker sind - auch wenn das auf viele von ihnen zutrifft. Ich denke, diese Art der politischen Gegenbewegung findet immer dann statt, wenn eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe lange Zeit an der Macht war und merkt, dass das nicht für immer der Fall sein wird.

Wie wird sich Ihrer Meinung nach die Situation von Minderheiten unter Trump entwickeln?

Es macht Angst, zu sehen, wie schnell Errungenschaften ungeschehen gemacht werden können. Diese Wahl hat gezeigt, dass ungefähr die Hälfte des Landes die aktuelle Vision der USA ablehnt. Die USA sind immer noch ein sehr konservatives, religiöses und provinzielles Land. Alle, die unkonventionelle Amerikaner sind - und das kann sehr viele unterschiedliche Dinge bedeuten -, sollten sich Sorgen machen und versuchen, ihre Räume zu verteidigen.

Wie lassen sich diese Räume verteidigen?

Indem man nicht das Land verlässt. Und indem man die Menschen durch Journalismus, durch Literatur, durch Kunst oder Aktivismus daran erinnert, dass wir Minderheiten das gleiche Recht haben, Amerikaner zu sein wie sie. Meine Familie musste dafür kämpfen, sich Amerikaner nennen zu dürfen. Vor etwa hundert Jahren wurde in den USA ein "Asian Exclusion Act" erlassen, der die Zuwanderung von Asiaten verhindern sollte. So unperfekt das Land auch ist und so peinlich mir ist, was dort gerade passiert: Das Beste, was wir tun können, wenn wir das Gefühl haben, wir sind unerwünscht, ist, die Regierung daran zu erinnern, dass wir jedes Recht haben, da zu sein. Wir müssen klarmachen, dass wir den Kampf nicht so einfach aufgeben werden.

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