Wie viele Bücher Ruth Achlama aus dem Hebräischen ins Deutsche übersetzt hat, kann sie sofort beantworten: 72 waren es bisher. Das macht sie zur wichtigsten Übersetzerin hebräischer Literatur ins Deutsche. Aber wie viele Autoren waren es? Die 73-Jährige mit dem grauen Kurzhaarschnitt springt vom Sofa in ihrer Wohnung im Zentrum Tel Avivs auf und eilt zum Buchregal direkt hinter ihr.
Die Bücher darin sind nach Autoren geordnet und nehmen drei Regalreihen ein. Werke der in Deutschland bekanntesten Namen der israelischen Literatur sind hier zu finden: Von Amos Oz sind es elf Bücher, zehn von Meir Shalev, sieben von Abraham B. Jehoschua, sechs von Yoram Kaniuk, je eines von David Grossman und Tom Segev. Das neueste ist Segevs Biografie über Israels Staatsgründer David Ben Gurion.
Zehn Monate hat sie an dieser Übersetzung gearbeitet, sechs Tage pro Woche von morgens bis abends. Denn das Buch mit seinen 800 Seiten sollte auf Deutsch vor dem 70. Jahrestag der Staatsgründung am 14. Mai 2018 auf den Markt kommen. Achlama hat die Abgabe pünktlich geschafft. "Als ich es beendete, war ich physisch nahe am Zusammenbruch. Es war ein Genuss, aber auch ein Knochenjob."
Jahrelang habe sie Segev regelrecht bekniet, seine Bücher aus dem Hebräischen und nicht aus dem Englischen ins Deutsche übersetzen zu lassen. "Wenn ein großer Geschichtsforscher auch noch ein großer Geschichtenerzähler ist, dann ist das ein Leckerbissen für Übersetzer."
Der Auftrag für die Übersetzung der Ben-Gurion-Biografie war so begehrt, dass auch Achlama um eine Übersetzungsprobe gebeten wurde. "Ich habe mir gedacht, ich krieg' das schon. So war es dann auch." Wegen des Zeitdrucks begann sie früh, das auf ursprünglich tausend Seiten angelegte Werk zu übersetzen. Dann wurden es auf Geheiß des amerikanischen und des deutschen Verlages nur 800 Seiten "und ich musste praktisch noch einmal von vorne anfangen, dabei hatte ich schon fast die Hälfte". Generell ortet sie einen Trend dazu, dass Verlage immer rascher Übersetzungen haben wollen.
Dass sie einmal Übersetzerin werden möchte, war schon in der Schulzeit ihr Berufswunsch. Aber sie wurde nicht gerade ermutigt. "Die Klassenlehrerin meinte: ,Na, so gut kannst Du nun auch wieder nicht übersetzen.'" Eine Klassenkameradin habe ihr den Ratschlag gegeben, einen Verlegersohn zu heiraten. "Da dachte ich mir: ,Auch nicht gut, denn bei uns in Mannheim gab es nur den Dudenverlag.'"
Ihr Vater war "Jurist mit Leib und Seele", also studierte auch sie Jura - zum Glück in Heidelberg. Dort lernte sie ihren späteren Mann Abraham kennen. Der israelische Chemiker hielt sich ab 1972 wegen eines Postdoc-Studiums in Deutschland auf. Schon davor war sie zum Judentum konvertiert, aus Renate Böteführ wurde durch die Heirat Ruth Achlama.
Nach der Übersiedlung nach Israel 1974 absolvierte sie, so wie alle Einwanderer, einen Hebräisch-Kurs, einen Ulpan. Die Abschlussarbeit sollte eine Bewerbung für den Traumberuf werden. Achlama, die gerade begonnen hatte, mit Hilfe der englischen Übersetzung Amos Oz' Buch "Mein Michael" auf Hebräisch zu lesen, sagte der Lehrerin zögernd: Sie würde gerne schreiben, dass sie Bücher ins Deutsche übersetzen möchte - am liebsten Amos Oz. "Zu meiner Freude sagte sie nicht, ich sollte lieber mit der Übersetzung von Bürobriefen oder Gebrauchsanweisungen anfangen, sondern sagte: ,Okay, schreib das.' Gut zehn Jahre später bekam ich den Auftrag für ,Der perfekte Frieden', meinen ersten Oz." Achlama übersetzte auch Oz wohl bekanntestes Buch "Eine Geschichte von Liebe und Finsternis".
Ihre erste Buchübersetzung war das Werk von Shulamith Shahar "Die Frau im Mittelalter". Dann suchte der Klett-Cotta-Verlag eine Übersetzerin für Yoram Kaniuk. "Das war mein Glück: Erstens war Kaniuk bereit, eine völlige Anfängerin zu nehmen. Zweitens hat sich das Buch ,Wilde Heimkehr' überhaupt nicht verkauft, aber alle Lektoren hatten es gelesen. Das hat mir Oz gebracht. Der brachte mir seinen Freund Jehoschua, so ging es weiter."
Es gab Zeiten, da war Achlama zwei Jahre im Vorhinein ausgebucht. Jetzt seien die wichtigsten Werke israelischer Autoren aufgearbeitet. "Die große Welle hebräischer Literatur ist weitgehend vorbei. Jetzt bewegt man sich auf normalem Niveau." Sie übersetzt derzeit rund drei Bücher pro Jahr. Als "Feministin" freut sie sich besonders über Ayelet Gundar-Goshen, eine Autorin des Jahrgangs 1982. Ihre Bücher "Löwen wecken" und "Eine Nacht, Markowitz" haben auf Deutsch mehr Erfolg als auf Hebräisch.
Im Februar kommt "Monster" von Yishai Sarid heraus. An einer Stelle habe sie nicht gewusst, ob der Protagonist zum Faustschlag aushole und ob er nur zuschlagen wollte. Auch ihr Mann Abraham als Muttersprachler war sich nicht sicher, also rief Achlama den Autor an. Selten macht sie das, "ich klebe lieber am Text", vor allem bei belletristischen Werken.
Auch die Zusammenarbeit mit Oz sei einfach gewesen, erzählt die Übersetzerin über den am 28. Dezember verstorbenen israelischen Schriftsteller. Vor allem für die Übersetzung seiner Werke erhielt sie 1995 den Paul-Celan-Preis. 2015 wurde sie mit dem Deutsch-Hebräischen Übersetzerpreis ausgezeichnet. Am vergangenen Donnerstag erhielt sie von der deutschen Botschafterin in Israel, Susanne Wasum-Rainer, das Bundesverdienstkreuz am Bande mit der Begründung, sie sei "Brückenbauerin zwischen Deutschland und Israel". Für Achlama bedeutet die Ehrung mehr als eine Berufsauszeichnung.
Zur Feier in der Residenz in Herzliya fanden sich dann nicht nur Freunde aus Deutschland und Israel ein, sondern auch "ihre" Autoren. Tom Segev nahm in der ersten Reihe Platz, Meir Shalev in der letzten. Shalev erzählte dann bei einem Glas Wein, dass er kein Wort Deutsch verstehe, aber bei seinen Lesungen immer merke, "dass der Rhythmus stimmt, Ruth versteht mich". Segev ist froh, "dass sie manchmal Fehler findet und mir das dann auch sagt". Auf die Frage, ob ihm, der sehr gut Deutsch spricht, auch ein Fehler bei ihrer Übersetzung aufgefallen, zögert er zuerst: Einem Leser sei aufgefallen, dass es über ein Treffen zwischen Ben Gurion und Mosche Dayan , der durch eine Kriegsverletzung ein Auge verloren hatte, hieß: das Treffen habe unter vier Augen stattgefunden. "Ruth wird sich darüber ärgern, denn sie ist eine Perfektionistin. Aber genau deshalb ist auch die Zusammenarbeit mit ihr so wunderbar."