Süddeutsche Zeitung

Literarische Sensation:Die Rückkehr der Nachtigall

Märchenhaft: Ein neues Buch von Harper Lee, der Autorin des Bestsellers "Wer die Nachtigall stört", soll fünfzig Jahre nach ihrem Welterfolg in diesem Sommer erscheinen. Das Manuskript galt bislang als verschollen.

Von Fritz Göttler

Es war, als würde man einen Schlag auf den Kopf erhalten, als würde man eiskalt erwischt, erinnert sich Harper Lee an den gewaltigen Erfolg ihres Erstlingsromans "To Kill a Mockingbird/Wer die Nachtigall stört". Er erschien im Juli 1960, brachte ihr einen Pulitzerpreis ein und Millionenauflagen, Übersetzungen in 40 Sprachen. Alle Welt kennt die kleine "Scout" und ihren Vater, den Rechtsanwalt Atticus Finch, wenigstens aus der Verfilmung von 1962, Regie Robert Mulligan, Produktion Alan J. Pakula, mit Gregory Peck als Atticus. Harper Lee hatte den Erfolg in keiner Weise erwartet. "Ich hoffte auf einen schnellen und gnädigen Tod unter den Händen der Kritiker, aber zugleich hoffte ich auch, jemand würde es ausreichend lieben, um mir gewisse Ermutigung zu geben."

Von einem zweiten Buch war danach immer mal wieder die Rede gewesen, aber dann zog sich Harper Lee doch schnell aus der literarischen Öffentlichkeit zurück, nicht ganz so radikal wie, und auf andere Art als die Kollegen Pynchon oder Salinger. Sie verbrachte lange Zeit ihres Lebens in New York, heute lebt sie, 88 Jahre alt, in ihrer Heimatstadt Monroeville, Alabama. Keine Interviews, kaum öffentliches Auftreten, kein weiteres Buch veröffentlicht. 1959 war sie mit dem Jugendfreund Truman Capote nach Kansas gefahren, als der den Mord an der Farmersfamilie Clutter recherchierte, für sein Reportagebuch "Kaltblütig". Sie gaben, kühl argumentierend, rauchend, ein typisches New Yorker Intellektuellenpaar ab. Zweimal wurde die Geschichte verfilmt, jeweils mit Catherine Keener und Sandra Bullock als Harper Lee.

"To Kill a Mockingbird", das ist einer der schönsten Coming-of-Age-Romane

Seit Dienstag steht Nelle Harper Lee nun doch wieder im Rampenlicht der literarischen Öffentlichkeit. Da wurde verkündet, dass es im Juli einen ersehnten zweiten Roman geben wird, "Go Set a Watchman", bei Harper, Auflage zwei Millionen. Kein neuer, später Roman, sondern einer, der vor "Mockingbird" geschrieben worden war, aber zwanzig Jahre später, in den Fünfzigern spielt. Scout ist eine junge Frau, ihr Vater Atticus ein alter Mann, gemeinsam stellen sie sich den brennenden Fragen des Rassismus in Amerika. Harper Lee meinte, das Manuskript sei verloren, aber Ende 2014 hat Tonja Carter, Lees Freundin und Anwältin, es in Harper Lees Archiv entdeckt - an ein "Mockingbird"-Manuskript geheftet. Hinweise auf einen Text dieses Titels hatte es durchaus gegeben, aber meistens hatte man irrtümlich angenommen, es handle sich um eine Frühfassung von "Mockingbird".

"To Kill a Mockingbird" ist eine der schönsten Coming-of-Age-Geschichten der modernen Literatur, in der Tradition der Romane von Mark Twain, Stevenson, Richard Hughes. Der amerikanische Süden der Dreißiger, der Depressionszeit, hat Züge eines Märchenlands der Ritterlichkeit und Gerechtigkeit, in das gleichwohl soziale Spannungen und stupider Rassismus hineindrängen. Tochter und Vater haben eine pragmatische Beziehung, wie zwei Buddys, wenn Atticus einen Schwarzen verteidigt, der einer Vergewaltigung angeklagt ist. Kein Wunder, dass Harper Lees Verleger damals, als sie ihm das Manuskript von "Go Set a Watchman" vorlegte, sie ermunterte, die Flashbacks dort in dieser Zeit auszuarbeiten zu einem eigenen Roman.

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SZ vom 05.02.2015/khil
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