Nationalepos "Die Jahreszeiten":Lobt den Schöpfer von unten

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Kristijonas Donelaitis (1714 - 1780) wurde posthum zum Nationaldichter Litauens. (Foto: Imago)

Kristijonas Donelaitis' Versepos "Die Jahreszeiten" war der Beginn der litauischen Literatur. Sein Thema ist heute wieder da: die Abhängigkeit des Menschen von der Natur.

Von Birthe Mühlhoff

Es galt als eines der ersten literarischen Werke der europäischen Neuzeit, das sich ausschließlich den kleinen Leuten widmete - den Fronbauern und Freibauern eines abgelegenen Dorfes. Als "Die Jahreszeiten" 1818 gedruckt wurde, begann der Aufstieg des Dorfpfarrers Kristijonas Donelaitis (1714 - 1780) zum Nationaldichter Litauens: Die "Metai" sind auch heute noch feste Schullektüre. Ähnlich wie in der Literatur, die man heute Nature Writing nennt, steht darin das Miteinander von Natur und Mensch im Mittelpunkt.

Dabei ist das Versepos, wenn man es denn so nennen will, alles andere als episch. Eher wirkt es, als würde man, dem Jahreslauf folgend, durch die Social-Media-Timeline eines ganzen Dorfes scrollen: Im Frühling wird ausgemistet, werden die Felder bestellt, im goldenen Herbst wird feuchtfröhlich Ernte und Hochzeit gefeiert, bevor sich die winterliche Stille über alles legt, über die vom Schnee "bärtigen Kiefern".

Die gottesfürchtigen Wesen dieser Welt sind oft die Tiere: "Manch eins tut es lauthals, ein anderes eher verhalten / jenes fliegt glückselig hinauf bis fast an die Wolken, / dieses bleibt im Geäst und lobt den Schöpfer von unten." Gleich der erste Auftritt eines Menschen ist eine Störung im allgemeinen Frühlingserwachen: Sternhagelblau wühlt sich ein Besoffener wie ein Schwein durch den Matsch.

So starr die Ständegesellschaft, so wenig verfestigt das nationale Denken

Das Buch zeigt eindrücklich, wie abhängig die Menschen vor der industriellen Revolution von den Jahreszeiten waren, davon, sie genau zu kennen. Wer es im Sommer verschläft, sich Vorräte für den Herbst und Winter anzulegen, der muss dem Frühling entgegenhungern. So kommt Donelaitis' Lehrgedicht an vielen Stellen auch als Ratgeber daher. Der übermäßige Alkoholgenuss ist ihm dabei immer wieder einen Verweis wert.

Besonders viele Ratschläge hat der Schulze des Dorfes parat, er trommelt die Fronbauern zum Ausmisten auf dem Gutshof zusammen, redet ihnen gut zu, als sie nach dem Tod eines geschätzten Gutsherren in Klagen ausbrechen, und hält sie dazu an, nicht neidisch auf das Lederschuhwerk der Deutschen zu schielen, sondern sich lieber neue Bastschuhe zu flechten. Über die verschiedenen Charaktere erfährt man nur wenig. Nicht jeder ist so unbescholten, wie er zunächst erscheint: Der sanftmütige Dorfschulze habe selbst in seiner Jugend Holz aus dem Wald gestohlen und den Förster bestochen, heißt es. Im Gegensatz zu den Tollpatschigen sei er nur heil davongekommen.

Kristijonas Donelaitis, der sich selbst gemäß der Mode seiner Zeit latinisiert "Christian Donalitius" nannte, war lutheranischer Pfarrer in Tolmingkehmen, einem kleinen Dorf im Westen von Litauen, damals östlichster Zipfel von Preußen. Heute, in der Enklave von Kaliningrad liegend, gehört es zu Russland. Selbst Bauernsohn, konnte Donelaitis nur dank eines Stipendiums studieren. Ähnlich wie es vom Philosophen Spinoza überliefert ist, verdiente der talentierte Donalitius sein Geld nebenbei mit dem Schleifen von optischen Gläsern, baute Thermometer und sogar drei Klaviere.

Kristijonas Donelaitis: Die Jahreszeiten. Aus dem Litauischen von Gottfried Schneider. C.H. Beck, München 2021. 126 Seiten. 16 Euro. (Foto: C.H. Beck Verlag)

Tatsächlich ist die neue deutsche Übertragung einem Kollegen von Donelaitis zu verdanken. Der Berliner Pfarrer Gottfried Schneider, geboren 1931, wurde Anfang der Neunzigerjahre zum Wiederaufbau der lutheranischen Gemeinde nach Litauen versetzt und wirkte über viele Jahre an der Universität Klaipėda. Das kenntnisreiche Nachwort der Neuausgabe ist aus verschiedenen Vorträgen und Essays des 1995 verstorbenen Literaturwissenschaftlers Alfred Kelletat zusammengestellt worden. Es erklärt eine Welt mit ganz anderen Voraussetzungen als die der heutigen: So starr die Ständegesellschaft war, so wenig verfestigt noch das Nationalstaatsdenken.

Man mag sich wundern, warum es in Donelaitis' Dorf von Polen, Deutschen und Franzosen wimmelt. Tatsächlich hatte die Pestepidemie von 1710 in der Gegend um Königsberg fast die Hälfte der Bevölkerung hinweggerafft, weshalb sich dort auf königliches Geheiß französischsprachige Bauernfamilien aus Neuchâtel und wegen ihres Glaubens verfolgte Salzburger ansiedelten. Auch dass Donelaitis auf Litauisch schreibt, war damals noch alles andere als selbstverständlich: Erst durch den lutherschen Anspruch, dass Gottes Wort auch vom einfachen Volk zu verstehen und deshalb in der Landessprache zu lesen und zu predigen sei, hatte man ab dem späten 16. Jahrhundert begonnen, dem Litauischen ein Schriftbild zu bauen.

2016 erschien der wunderschön gestaltete Band "Die Jahreszeiten" schon einmal im Kleinverlag Langewiesche-Brandt, der seit 2020 nicht mehr existiert. Der C.H.-Beck-Verlag gibt dem Buch nun dankenswerterweise eine zweite editorische Chance.

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