Linguistik:Wie man Leser vor Schwindel schützt

Linguistik: Ludwig Reiners "Stilfibel", hier eine Ausgabe von 1962.

Ludwig Reiners "Stilfibel", hier eine Ausgabe von 1962.

(Foto: C.H. Beck Verlag)

Zwei große Vorbilder der Sprachkritik: Heidi Reuschel vergleicht in ihrer Dissertation die "Stilkunst" von Ludwig Reiners mit der "Stilkunst" von Eduard Engel und kommt dabei zu erhellenden Ergebnissen.

Von Thomas Steinfeld

Öffentlich auftretende Sprachkritiker neigen dazu, eine ganze Gesellschaft in Schüler zu verwandeln, wobei es zur Eigenheit dieses Gewerbes gehört, dass die Leser sprachkritischer Werke sich zumindest während ihrer Lektüre einig wissen mit dem Kritiker. Gewiss, es ist nicht auszuschließen, dass sie ein sprachkritisches Werk studieren, um sich zumindest schriftlich besser ausdrücken zu lernen. Vielleicht schreiben sie danach tatsächlich besser. Viel größer aber ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie das Zurechtweisen selbst genießen, indem sie glauben, sie hätten das, was der Kritiker am gemeinen Sprachgebrauch auszusetzen hat, immer schon gewusst oder doch zumindest geahnt.

Aber ist es nicht merkwürdig, dass es so viele erfolgreiche Hausmeister der deutschen Sprache gibt, von Wolf Schneider und Eike Christian Hirsch über Bastian Sick bis zu Eckhard Henscheid, ohne dass der Umgang mit der deutschen Sprache einen erkennbaren Nutzen aus ihrer Arbeit gezogen hätte?

Für die Kritik des Sprachgebrauchs im Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg scheint es ein Grundbuch zu geben: die "deutsche Stilkunst" oder "Stilkunst" des Münchner Kaufmanns und "Sonntagsschriftstellers" Ludwig Reiners (1896 bis 1957). Zuerst veröffentlicht im Jahr 1943 oder 1944, erschien die bislang jüngste gebundene Edition im Jahr 2004. Insgesamt werden von diesem Buch, das knapp 600 Seiten umfasst, etwa 150 000 Exemplare gedruckt worden sein. Daraus abgeleitet ist die "Stilfibel" desselben Autors, im halben Umfang. Die erste Auflage wurde 1951 veröffentlicht. Im Jahr 2001 ging die gebundene Ausgabe in die 19. Auflage, während das Taschenbuch im vorvergangenen Jahr die 38. Auflage erreichte. Wie viele Exemplare der "Stilfibel" gedruckt wurden, ist kaum zu ermitteln. Doch dürfte die Gesamtauflage dieses Werkes bei mindestens sechshunderttausend Stück liegen.

Eckhard Henscheid ist ein Fall für sich. Doch sowohl Wolf Schneider als auch Bastian Sick sind der "Stilkunst" Ludwig Reiners' verpflichtet, in der Anlage ihrer Texte, in ihren Argumenten und Beispielen und schließlich auch in ihren Vorstellungen davon, was gutes und richtiges Deutsch sei.

Im Jahr 2003 erhob der Schweizer Gymnasiallehrer Stefan Stirnemann den Vorwurf, das berühmte Buch sei ein "Plagiat", Ludwig Reiners ein "Betrüger", ein "Fälscher" und "Hochstapler". Seitdem ist zumindest der Verdacht öffentlich durchgesetzt. Einen begründeten Zweifel hatte es immer schon gegeben. Doch Stefan Stirnemann brachte Beispiele in beträchtlicher Zahl: Ludwig Reiners hatte sich von der "Stilkunst" des Philologen, Publizisten und professionellen Stenografen Eduard Engel, zuerst erschienen im Jahr 1911 und dann zwanzig Jahre lang in dreißig Auflagen (in insgesamt 64 000 Exemplaren) vertrieben, deutlich mehr als nur inspirieren lassen. Die Gliederung, ein großer Teil der Belege, vor allem aber die Kriterien für guten und schlechten Stil - all diese Elemente kehren, so wie sie bei Eduard Engel entfaltet sind, bei Ludwig Reiners wieder.

Reiners arbeitete unredlich, aber war er ein Betrüger, der bei einem "verfemten" Fachmann stahl?

Nun hatte aber Eduard Engel, ein deutschnational gesonnener Jude, im "Dritten Reich" ein Publikationsverbot erhalten, während Ludwig Reiners im Jahr 1933 in die NSDAP eingetreten war. Und wenn auch die Erinnerung an Eduard Engels "Stilkunst" zehn Jahre - oder auch zwanzig Jahre - danach nicht völlig verblasst sein konnte, so hatte doch der radikale Wandel der Verhältnisse dafür gesorgt, dass die Abhängigkeit des einen Werks vom anderen für Ludwig Reiners nie zu einem Problem wurde.

Im Verlag der Universität Bamberg ist nun eine vollständig im Internet abrufbare Dissertation erschienen, die dazu angetan ist, die Polemik um Ludwig Reiners' "Plagiat" auf eine ebenso breite wie sachliche Grundlage zu stellen. Direkte Übernahmen, so wie sie das Publikum heute von Karl-Theodor zu Guttenberg oder Annette Schavan zu kennen meint, gibt es in Ludwig Reiners '"Stilkunst" kaum, wie die Germanistin Heidi Reuschel in ihrer Arbeit "Tradition oder Plagiat" nachweist. Um so häufiger aber sind Anleihen, Übertragungen in leicht veränderte Formulierungen, sinngemäße Übernahmen, Paraphrasen. Und daran, dass Anlage und Absicht des Werks übernommen sind, kann es ohnehin keinen Zweifel geben.

Doch so unredlich Ludwig Reiners auch gearbeitet haben mag: Heidi Reuschel zögert, seine "Stilkunst" schlicht ein "Plagiat" und ihn selbst einen "Betrüger" zu nennen, einen "Hobbyschriftsteller", der reiches Fachwissen bei einem "verfemten" Fachmann stiehlt.

Dafür hat sie gute Gründe. Der offensichtliche Grund ist: Die klaren Unterscheidungen zwischen gut und schlecht, rein und unrein, richtig und falsch, die Eduard Engel für den angemessenen Gebrauch des Deutschen gefunden haben will - es gibt sie nicht immer. Und Ludwig Reiners urteilt oft milder als sein Vorgänger. Hinzu kommt, dass es sich bei den Büchern von Eduard Engel wie von Ludwig Reiners um normative Werke handelt, die nicht als Sprachwissenschaft gedacht sind - deutlich erkennbar zum Beispiel daran, dass offenbar keiner von beiden daran denkt, dass es so etwas wie Sprachwandel gibt. Und schließlich: Auch Eduard Engel ist Vorbildern verpflichtet. Er ist es zwar bei weitem nicht in dem Maße wie Ludwig Reiners, der darüber hinaus Eduard Engel als seine Hauptquelle verschweigt. Aber die Arbeiten von Gustav Wustmann und Daniel Sanders sind ihm zumindest so vertraut, wie es die "Stilkunst" etwa für Wolf Schneider ist. Dieser hält Ludwig Reiners immerhin für den "Sprachpapst". Im ausgehenden 19. Jahrhundert bildete sich, laut Heidi Reuschel, eine Tradition der präskribierenden Sprachkritik, die Variationen nur begrenzt zuließ. Der Sprachwissenschaftler Willy Sanders nennt diese sprachkritische Tradition eine "Abschreibkunst".

Das lag daran, dass sie ihren Gegenstand keineswegs nur in Sprache hatte: Die Leidenschaft für den kurzen Satz, die Verachtung gegenüber dem scheinbar nur schmückenden Adjektiv, die Ablehnung von Spielerei und Prunk, für dessen verwerflichste Form nicht nur Eduard Engel die "Geistesseuche" des Fremdworts hält - all diese bis heute vertrauten Elemente der Sprachkritik sind nicht nur linguistischer Art, sondern gehören auch in eine allgemeine Pädagogik der Effizienz, die sich methodisch, also unabhängig von ihrem Gegenstand, behaupten will. "Knappheit", erklärt Ludwig Reiners, "gibt dem Stil eine stolze Kontur und schützt den Leser vor Schwindel." Die daraus folgenden Rotstift-Massaker sind Exerzitien einer Selbst-Rationalisierung, der sich ihr Publikum freiwillig unterwirft. Es ist insofern nur folgerichtig, dass die frühen Lehrer des beruflich orientierten "self growth", also etwa Broder Christiansen, Gustav Großmann oder Oscar Schellbach, allesamt auch als Sprach- oder Sprechlehrer hervortraten.

Was in dieser Dissertation in den Hintergrund rückt, aber nicht vergessen werden sollte, ist der Umstand, dass Eduard Engel ein ungleich freierer Kopf war als Ludwig Reiners. Engel war belesen, kundig und selbständig im Urteil, während Ludwig Reiners das nur ist, indem er weitere Quellen ausbeutet, Karl Kraus oder Leo Weisgerber zum Beispiel. Engel kann ausfällig werden, und er wird es immer wieder, wenn es um Fremdwörter geht, aber er teilt den Rassismus nicht, der sich durch alle Ausgaben der "Stilkunst" von Ludwig Reiners zieht: Darin hat das Französische etwas "spechtartig Trommelndes", der betonten Endsilben wegen, das Deutsche zeichnet sich hingegen durch seine "Erdhaftigkeit" aus, und das Russische soll durch die "rationale Denkart" der Bolschewisten beschädigt worden sein. Die Verbeugungen vor dem Nationalsozialismus, die es in der Ausgabe von 1944 gab, sind zwar abgeschwächt oder getilgt. Die Leidenschaft für den "Tatmenschen" hingegen ist geblieben.

Heidi Reuschel ist der Furor fremd, mit dem Stefan Stirnemann verlangt, dass die "Stilkunst" des kreativen Abschreibers Reiners vom Markt genommen und durch eine Neuausgabe der "Stilkunst" Eduard Engels ersetzt wird. Dieser Eifer, der in der Sprachkritik eine lange Tradition hat, zielt nicht nur auf die Sprache. Er entfaltet sich erst dann richtig, wenn er in der Sprache auch den Menschen treffen will. Doch so richtig die Annahme auch sein mag, dass die Heuchelei, die Hochstapelei und die Lüge meistens sprachliche Formen annehmen und als solche erkannt werden können, so wenig sind sie doch begriffen, wenn von ihnen nichts als eine sprachliche Verfehlung übrig bleibt.

Eduard Engel war ein ungleich freierer Kopf, belesen, kundig, selbständig im Urteil

In diesem Sinne schrieb Johann Wolfgang Goethe im Sommer 1813 an seinen späteren Sekretär Friedrich Wilhelm Riemer: "Allein das muß ich Ihnen gegenwärtig anvertrauen, daß ich im Leben und im Umgang . . . mehr als einmal die Erfahrung gemacht habe, daß es eigentlich geistlose Menschen sind, welche auf die Sprachreinigung mit zu großem Eifer dringen: denn da sie den Werth eines Ausdrucks nicht zu schätzen wissen, so finden sie gar leicht ein Surrogat, welches ihnen ebenso bedeutend erscheint." Der Satz findet sich in Eduard Engels "Stilkunst". In Ludwig Reiners' Werk gleichen Namens kommt er nicht vor.

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