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Linguistik der Beleidigung:"Ein Esel soll dich vögeln!"

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Andere Länder, andere Kraftausdrücke: Der Sprachwissenschaftler Hans-Martin Gauger untersucht in seinem Sachbuch "Das Feuchte und das Schmutzige" die vulgäre Sprache und erklärt zum Beispiel was passiert, wenn ein Italiener und ein Franzose verbal aufeinander losgehen.

Mark-Georg Dehrmann

Das kennen wir wohl alle: Jemand kommt uns auf unzulässige Weise "dumm" - und schon brandet innerlich die Wut gegen den Damm zivilisierter Zurückhaltung. Zwischen verschiedenen Schichten unseres Bewusstseins wird im Bruchteil einer Sekunde gleichsam ausgehandelt, wie viel Energie in welcher Form überschwappen darf. Meist stößt man dann glücklicherweise eine verbale Beleidigung heraus, anstatt mit der Faust zu "sprechen".

Erstaunlich an solchen Vorgängen ist, dass sie sich einerseits blitzschnell vollziehen, aber doch oft mit großer Bewusstheit, obwohl das Bewusstsein hier meist kaum noch steuern kann. Man muss sich gleichsam auf die zivilisatorische Grundausstattung verlassen, die man vorher jahrzehntelang mühevoll habitualisiert hat. Und dann kann man, obwohl in Rage, fast zuschauen, wie sich alles austariert: Furcht vor den Folgen justiziabler Tatbestände wie Körperverletzung und Beleidigung etwa gegen die mächtig wogende Lust, den Gegner doch irgendwie zu treffen; das schamvolle Bewusstsein einer Abweichung von würdevoller Kommunikation und philosophisch-religiösen Weisheitslehren gegen die bohrende Empfindung, dass der andere uns doch wohl Unrecht getan und damit eine Strafe verdient hat.

Wo brandender Affekt und kulturelles Tabu aufeinandertreffen, kann man viel lernen: über sprachliche oder kulturelle Prägungen, über Werte und Unwerte einer Gesellschaft, darüber, wie man sich gegenseitig erniedrigt und was dementsprechend als niedrig angesehen wird. Wo man beleidigt oder ausfällig wird, entlädt sich eine angestaute Energie. Sie kristallisiert sich bezeichnenderweise oft in uneigentlichen Formen der Sprache. Im Vulgären regieren Metapher und Metonymie, sei es, dass Menschen mit Tiernamen angeredet werden, sei es, dass einzelne Körperteile wie Geschlecht oder Ausscheidungsorgane herangezogen werden, sei es auch, dass der Geschlechtsakt zum Einsatz kommt.

Deutsche werden anders ausfällig

Insofern sind Beleidigungen höchst interessante Gegenstände für den Sprachforscher. Es ist also nichts Anrüchiges dabei, wenn der emeritierte und hochdekorierte Linguist Hans-Martin Gauger ihnen und anderen Fällen von vulgärer Sprache sein neues Buch widmet. Er steht damit in einer ehrwürdigen Tradition. Denn schon die Brüder Grimm nahmen die "Anstöszigen Wörter" mit Entschiedenheit in ihr "Deutsches Wörterbuch" auf: "Es gibt kein wort in der sprache, das nicht irgendwo das beste wäre und an seiner rechten stelle".

Gaugers Exploration des Vulgären in unterschiedlichen Sprachen geht dabei von einer aufschlussreichen Beobachtung aus: Das Deutsche wird anders ausfällig als andere Sprachen. In ihm überwiegen Wörter und Wendungen, die sich auf den Fäkalbereich beziehen. Der skatologische Lieblingsfluch der Deutschen muss hier nicht zitiert werden, auch nicht die zahlreichen Komposita, die sich mit ihm bilden lassen, oder die adverbiale Fügung, mit der sich das Missfallen an fast jedem Gegenstand ausdrücken lässt. Und auch die beliebte Beleidigung, mit der man jemanden zum Zentrum des Hinterteils erklärt, dürfte jedem bekannt sein.

Vor allem die romanischen Sprachen, aber auch das Englische und erstaunlicherweise das Niederländische benutzen an solchen Stellen dagegen mit Vorliebe sexuelle Termini. Sinnfällig führt Gauger diese kulturelle Differenz ein, indem er an den aufsehenerregenden Schlagabtausch von Materazzi und Zidane erinnert. Der erste Zug des Italieners war hier bekanntlich die Wendung, er wolle die Schwester seines Kollegen sexuell missbrauchen. Das ist sicher harsch, gehört aber fest zum topischen Beleidigungsarsenal der romanischen Sprachen.

Auch wer Französisch, Italienisch, aber auch Spanisch oder Portugiesisch spricht, kann bei Gauger viel darüber lernen, was hier alles - zurückhaltend übersetzt - "gevögelt" werden oder "gevögelt" sein kann. Ist beispielsweise im Deutschen etwas "Mist" (oder so ähnlich), so ist es dort "gevögelt"; wird man im Deutschen "angeschmiert" (oder so ähnlich), so wird man dort "gevögelt". Analog verhält es sich bekanntlich mit dem Englischen. Und auch im Altägyptischen ist offenbar eine Verwünschung belegt, die sich übersetzen lässt mit: "Ein Esel soll dich vögeln!"

Dies sind nur einige Beispiele für die Fülle von Belegen, literarischen Zitaten, Anekdoten und Analysen, mit denen Gauger seine Beobachtung erhärtet. Er beschränkt sich dabei nicht auf die genannten Sprachen, sondern unternimmt auch Streifzüge durchs Türkische, Schwedische, Ungarische, Rumänische, Russische und andere Sprachen. Die Menge des Materials bringt es dabei mit sich, dass Gauger seine Beobachtung einerseits bestärkt, andererseits aber auch relativiert.

Denn das Französische steht wohl doch auf zwei Beinen, einerseits dem sexuellen, andererseits dem exkrementellen. Und auch das Englische: Jedem dürfte der neuere "shitstorm" bekannt sein, der freilich auf einer alten, breiten Tradition beruht. Und schließlich gibt es im Deutschen nicht erst durch den verstärkten Einfluss des Englischen in den letzten Jahrzehnten auch sexuelle Kraftwörter. Vor allem in Südwestdeutschland und in der deutschsprachigen Schweiz sind Wendungen beliebt, die von "Seckel" ausgehen.

Wenn Gauger seine These vom "deutschen Sonderweg" ein Stück weit wieder unterläuft, dann darf das bei einem Wissenschaftler wohl als Tugend gelten. Er verschweigt nicht, was seiner Beobachtung zu widersprechen scheint. Merkwürdig ist jedoch, dass ihm eine deutliche Analogie nicht zu Bewusstsein kommt, die zwischen deutschen Fäkal- und anderweitigen Sexualwendungen herrscht. Offensichtlich ist es mit einer ähnlichen Kränkung verbunden, wenn man es in der deutschen Sprache mit den Fäkalien einer anderen Person zu tun bekommt, in der anderen Sprache aber imaginär sexuell missbraucht wird. Auf jemanden zu "scheißen", "angeschissen" oder "beschissen" zu werden, erniedrigt oder bringt erlittene Erniedrigung zum Ausdruck; entsprechend verhält es sich, wenn man ankündigt, die Schwester seines Kontrahenten zu vögeln oder aber beklagt, von jemandem fertiggemacht oder betrogen - also "gevögelt" - worden zu sein.

Alles dies sind, wenig erstaunlich, auch Verhandlungen von Macht. Die Form, die sie sprachlich annimmt, benennt Gauger dann wieder sehr deutlich: Die meisten sexuellen, aber auch fäkalen Ausdrücke zeugen von über Jahrhunderte und Jahrtausende gefestigten Männerwelten - wobei sich an den Ausdrücken interessanterweise nicht unbedingt etwas ändert, wenn auch Frauen zu ihr Zugang bekommen.

Psychoanalysen der deutschen Volksseele

Andere Sprachforscher vor Gauger haben aus der kulturellen Eigenheit der deutschen Sprache rasch auf die "anale" Verfasstheit des deutschen Geistes geschlossen. So mancher konnte sich nicht verkneifen, von hier auch Linien zum Nationalsozialismus zu ziehen. Es ist Gauger hoch anzurechnen, dass er solche wohlfeilen Psychoanalysen der deutschen Volksseele diskutiert, sie aber aus guten Gründen ablehnt. Genauso fragwürdig wäre die - ebenfalls denkbare - Folgerung, dass die deutsche Kultur keinen Machismus kenne, weil in der fäkalen Vulgärsprache nur selten Gegner mit negativ besetzten weiblichen Eigenschaften erniedrigt würden.

Ganz befriedigend ist es jedoch auch nicht, dass Gauger am Ende fast vollständig darauf verzichtet, Erklärungen für seinen Befund des so abweichenden deutschsprachigen Fluchens zu liefern. Er schließt sein Buch mit der Bemerkung: "Ich stelle nur Fragen". Als Kronzeugen führt er Robert Musils Roman "Der Mann ohne Eigenschaften" an, dessen erstes Kapitel überschrieben ist: "Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht". Damit aber läuft auch der Spannungsbogen ins Leere, den das Buch von seiner ersten Seite an aufzubauen schien. Aber diese Enttäuschung spricht auf der anderen Seite doch auch für eine vorbildliche Haltung des Linguisten Gauger. Die Zurückhaltung, die er am Ende übt, stünde so manchem anderen Sachbuch, das für nichtakademische Leser geschrieben ist, ebenfalls gut zu Gesicht.

Hans-Martin Gauger: D as Feuchte und das Schmutzige. Kleine Linguistik der vulgären Sprache. Verlag C.H. Beck, München 2012. 283 S., 16,95 Euro.

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Quelle:
SZ vom 26.10.2012
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