Liebe zur Musik:Die Masse macht's

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Kulturpessimisten werden es kaum glauben: Die Lust auf Töne ist riesig, in Deutschland wird heftig musiziert. Jeder zehnte Deutsche singt, flötet oder geigt.

Hermann Unterstöger

Es ist wie eine große Koalition der Willigen, der Besorgten, der Warner. Anne-Sophie Mutter sieht das musikalische Deutschland in die Bedeutungslosigkeit abdriften, Thomas Quasthoff ärgert sich darüber, dass ,,die Sachfächer turmhoch über dem Schöngeistigen'' stehen, Heino wünscht sich für alle Schüler das Fach Volksmusikkunde, Politiker aller Lager fordern zu verstärktem oder, wo es bereits verstummt ist, zu neuem Singen auf, und was den unverwüstlichen Pfarrer Fliege angeht, so will er sogar den Bevölkerungsrückgang mit Gesang aufhalten: ,,Neues Leben ohne Lieder gibt es nicht!''

Das Unterrichtsfach Musik an Schulen verliert an Bedeutung, aber Musikschulen, Jugendchöre oder Blasorchester haben großen Zulauf. (Foto: Foto: AP)

Wie hoffnungslos ist die Lage? Bundestagspräsident Norbert Lammert ließ unlängst keinen Zweifel daran, dass unsere kulturelle Bildung in einem ,,lausigen Zustand'' sei, dass der Kulturstaat Deutschland ,,nicht in seinen Blüten bedroht ist, sondern in seinen Wurzeln''.

Die Musikwissenschaftlerin Martha Brech von der TU Berlin untersuchte die individuellen Singgewohnheiten und beobachtete dabei, dass sich, wer überhaupt singe, gern verberge, im Chor, im Lärm, wo auch immer, und dass eine Mutter, die ihrem Kind im Kinderwagen etwas vorsinge, wie ertappt verstumme, wenn sie merke, dass ein hinter ihr Herschlendernder mithöre. Auf der anderen Seite muss man nur vor die Haustür treten, zum Beispiel ins bayerische Oberland hinaus, um Dörfer vorzufinden, in denen das Singen und Klampfen und Blasmusikspielen überhaupt kein Ende nehmen will, ob es nun einen Anlass dafür gibt oder nicht.

Melodien für Millionen

In der Fachwelt - und nicht nur in ihr - befasst man sich nach wie vor gern mit der Frage, ob und in welcher Weise sich die Musik, das Singen ganz besonders, auf den geistigen Haushalt eines Heranwachsenden auswirkt, ob also, um eine gängige und in dieser Plattheit sicher falsche Formel zu wiederholen, ,,Mozart schlau macht''.

Letzte Antworten stehen noch aus, doch hat man immerhin erfreuliche Erkenntnisse darüber, dass musizierende Kinder auch in ihrem sozialen Verhalten den rechten Ton eher zu finden wissen und schon insofern besser als andere für die Anforderungen des Lebens gerüstet sind.

Nach dem Anspruch, den ein Kulturstaat wie Deutschland an sich selbst zu stellen hat, müsste es allen Kindern möglich sein, solch einer Rüstung habhaft zu werden. Der klassische Ort dafür ist die Schule, und genau da ist offenbar der Hund begraben.

Im neuen Almanach des Deutschen Musikrats ist zwar vermerkt, wie viele Musikstunden im föderal buntscheckigen Bildungsland hier und dort vorgesehen sind. Ebenso klar wird aber gesagt, dass der eklatante Fachlehrermangel diese Margen meistens ad absurdum führt, oft bis zur fast völligen Auslöschung des Faches Musik, eines Faches nebenbei, das ,,in Klammerungen und Fächerverbünden'' nicht selten vom ,,Verlust der eigenen Dignität'' bedroht ist.

Hans Bäßler ist Vizepräsident des Musikrats und Musikprofessor in Hannover. Seine Diagnose des musikalischen Volksvermögens läuft auf die hierzulande gar nicht seltene Krankheit Teufelskreis hinaus. Weder zuhause noch im Kindergarten werde nennenswert gesungen, in den Schulen aber fehle es an den Kapazitäten, das Versäumte nachzuholen und den Kindern die musikalisch-ästhetische Bildung angedeihen zu lassen, deren sie zu ihrer Persönlichkeitsentwicklung bedürften.

Wurzelwerk verödet, Baumkrone blüht

Das Unvermögen der Schulen wiederum rühre daher, dass die Musikhochschulen zu ambitioniert seien, um genügend Leute für die Alltagsarbeit heranzubilden: ,,Wir prüfen die Interessenten heraus.'' Die Misere schlägt sich in den Daten zur musikalischen Grundversorgung nieder. An den Gymnasien gehe es noch an, da erreiche man 64 Prozent des für nötig Erachteten, dann jedoch bröckelt es ab: Hauptschulen 37, Grundschulen 20 und Sonderschulen 3 Prozent.

Dass die Musizierlust trotzdem riesig ist, lässt sich ebenfalls mit Zahlen belegen. Rolf Pasdzierny vom Arbeitskreis Musik in der Jugend rechnet vor, dass sich die Menge der Kurstage seit 1989 verdreifacht hat, von 8000 auf 25000, was auch damit zusammenhänge, dass man nicht so sehr auf Nachwuchs spitze, sondern die Kinder ,,als Kinder'' ernst nehme und ihrem Leistungswillen die erwünschten Anreize biete.

Man schätzt die Schar der singenden und spielenden Laien auf sieben bis acht Millionen, ihre Heimat sind die 78000 registrierten Chöre und Ensembles, neben denen sich freie Gruppen ohne Zahl auf ihre je eigene Weise produzieren; auch die Musikschulen haben starken Zulauf.

Wir stehen also vor dem Phänomen, dass das Wurzelwerk verödet, derweil die Baumkrone üppig blüht. Die seltsamste Blüte hat der Musikrat entdeckt: Eine seiner Autorinnen hält es für nicht ausgeschlossen, dass das Basteln von Handy-Klingeltönen die zur Zeit vielleicht ,,modernste Form des Laienmusizierens'' ist.

© SZ vom 26./27. - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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