Serie: Licht an mit Joachim Lottmann:Zeit der Zärtlichkeit

Joachim Lottmann Lockdown Corona Wien

Joachim Lottmann, 60, ist ein deutscher Schriftsteller und lebt in Wien. Anfang des Jahres erscheint sein neuer Roman "Sterben war gestern".

(Foto: Ingo Pertramer)

Endlich ist Schluss mit den Lockerungen, in Wien ist alles wieder still. Dazu die Kälte. Schön. So kommt der Mensch zu sich. Über den Lockdown in der österreichischen Hauptstadt.

Gastbeitrag von Joachim Lottmann

In Österreich herrscht der totale Lockdown. Der erste Reflex darauf ist negativ, "fuachtboar", wie der Wiener sagt. Als ich beim ersten Lockdown eine seltsame, völlig unerwartete, zärtliche Veränderung bemerkte, die sich nach nur einigen Tagen schon zwischen mir und meiner Frau einstellte, entdeckte ich sozusagen den Menschen in meiner Lebenspartnerin. Aus der megawichtigen Journalistin, die jahrelang, von mir bewundert, die politische Berichterstattung in Österreich mitverantwortet hatte, wurde eine auch emotional, physisch, ja sogar metaphysisch präsente Frau. Wie am Anfang unserer Liebe sah ich Harriet nicht nur adrett zurechtgemacht auf dem Fernsehschirm, sondern lässig im Bademantel beim Home-Office direkt vor meiner Nase. Zeit der Zärtlichkeit! So nannte ich sie auch in meinem neuen Buch, an dem ich gerade arbeitete.

Diese Zeit endete mit den bekannten ekligen "Lockerungen" im Sommer.

Ich muss das nicht beschreiben, jeder hat damals das Wiedereinsteigen ins Hamsterrad miterlebt. Alle arbeiteten wieder wie um ihr Leben. Kinder nahmen umgehend ihre bekannten Rollen als Quälgeister und Diktatoren wieder ein, Männer wurden zu Erfüllungsgehilfen ihrer paranoiden Vorgesetzten und herrschsüchtigen Frauen. Alles wie gehabt. Aber der österreichische Bundeskanzler - ich wohne in Wien und sehe ihn manchmal - sagte mir schon damals, es werde im Herbst sicher einen zweiten Lockdown geben. Endlich ist es so weit. Die Wiener genießen ihn. Sie können wieder tun, was sie am liebsten tun: jammern.

Der Nebel steigt über den Prater-Park, wir wohnen ganz in der Nähe, ich nehme manchmal den Fiaker. Schläfrig legt der Kutscher den Kopf zur Seite, ich höre das Getrappel der Pferde und daher kaum das Jammern des Kutschers, aber ich kenne es ja. Der Lockdown, der Virus, nun auch noch der Anschlag. Alles kommt zusammen. Die Toten, die Verwundeten, die Infizierten, auch das immer schlechter werdende Wetter ...

Der Wiener ist sehr moody. Er möchte sich nur mit seinen Stimmungen beschäftigen. Reale Katastrophen stören ihn dabei, echte Terror- und Corona-Tote kommen ihm in die Quere. Er möchte jammern, nicht sich fürchten. Er braucht keinen Terrorismus und Opfer, er braucht die komplette Zeit, um beim Anblick des Novemberhimmels die eigene Vergänglichkeit zu spüren. Freunde des Sängers Falco berichten, wie der Sänger immer wieder auf dem Balkon saß und runterspringen wollte. "Wart' no a bisserl", rieten sie ihm.

Zu viel Schmäh? Darf man so etwa über Terrorismus reden, schreiben? Eigentlich nicht. Andererseits töten Attentäter heutzutage wegen Karikaturen. Sie wollen den Humor abräumen. Wir müssen den Schmäh gegen "diese kloanen Oaschlecha" verteidigen. Will man in Wien ernst über den Anschlag reden, zum Beispiel mit Taxlern, hört man das hier: "Beim Strache hätt's des net geben. Der hätt' die gor net neiglassen. Die woin an eignen Staat! De Frauen arbeiten olle nix, die kriagn Kinder, zehn Stück ..."

Auf der Rückfahrt die nächste Stichprobe. Diesmal eine ältere Wienerin, silberblau gefärbte Haare:

"Diese Salafsten, na! Überhaupt. So ein Gfries kriegt eine Mindestsicherung. Und eine Gemeindebauwohnung. Ich hab ka Mitleid mit die ganze Flüchtlinge. Überall die Moscheen. Die wolln Europa islamisieren. Die Regierung lässt den ausm Gfängnis aussa, und jetzt kommen s' drauf, dos der überall Freinderln hot ..."

Und so weiter. Mehr bei der nächsten Kurzstrecke.

Alle Kaffeehäuser haben zu. Alles andere hat auch zu. Nur der Stephansdom hat auf. Zum stillen Beten. Gottesdienste sind verboten. Also gehe ich manchmal rein, warum denn nicht? Noch im Sommer war der Stephansdom der profanste, lauteste, scheußlichste Ort der Stadt. Ein Gequake aus tausend Touristenkehlen, meist auf Englisch, Geschiebe, unsagbar schlechte Laune bei allen Beteiligten, vor allem bei den vielen Kindern, die mit dem Geschlurfe durch muffiges Mobiliar nichts anfangen konnten. Jetzt dagegen ist dort eine Stimmung der Reinheit.

Die Wiener saufen jetzt daheim. Man hört es am endlosen Klirren der Glascontainer

Ganz kurz vor dem Lockdown habe ich noch eine Messe um 19 Uhr gesehen. Ich bin nicht gläubig, aber hier sah ich plötzlich das Mittelalter.

Es waren nur rund vierzig Menschen im Stephansdom. Ganz unscheinbare, bescheidene. Wie die am Ende nach vorne gingen, quasi auf Zehenspitzen, um die Oblate, den Trost, der sie wieder ins Gleichgewicht brachte, zu bekommen, das hat mich umgehauen. Sogar der meines Erachtens angeknockte und überaus weinerliche Priester rührte mich. Ein alter, unbekannter Mann, der sich Messwein nachschenkte. Ein Leben lang hatte er im Schatten seines Chefs gestanden, des Kardinals Schönborn. Jetzt war er mal an der Reihe, der Vize.

Diese dunkle Riesenkirche im finsteren November, dann auf einmal dieser warme Stich im Herzen, das war schön. Aber auch damit ist es jetzt vorbei. Stattdessen gibt es Geistergottesdienste. Also im Fernsehen übertragene Messen ohne Zuschauer. Damit sei sichergestellt, dass die Eucharistiefeier stattfinde und man über die Medien mitfeiern könne, heißt es.

Fassen wir zusammen: Der zweite Lockdown findet unter anderen Bedingungen statt als der erste. Es fehlt das Licht. Ich merke: Ich bin nicht integrierbar in diesen Lockdown, in diese Stadt, in diese Jahreszeit und in diese Dunkelheit. Die Wiener können auch mit meinem Buch nichts anfangen, das bald erscheint. Zu lebensbejahend. "A bisserl wenig Weltschmerz", konstatierte ein Wiener Kollege, dem ich das Manuskript neulich gab.

Es gibt Zigtausende Philosophen hier, die finden das weit unter ihrem Niveau, diese Themen, Terror, Covid-19, Joe Biden. Über eine Schlägerei in ihrem Wirtshaus reden sie stundenlang, aber nicht darüber, dass dort jemand erschossen wurde. Was machen sie jetzt also, wo das Stamm-Beisel gesetzlich dichtgemacht hat und sie selbst im Hausarrest sind? Sie saufen zu Hause. Man hört es derzeit am endlosen Klirren der Glascontainer am Mittag, wenn sie ihre leer getrunkenen Flaschen entsorgen.

Kontaktbeschränkung, die Welt hat geschlossen, und das im Winter. Wie also kommen wir ans Licht? In der SZ-Serie "Licht an" finden Sie persönliche Geschichten von Künstlerinnen und Künstlern.

  • Auf der Parkbank

    Eines sonnigen Mittwochs bestieg ich in Wedding eine Parkbank und begann vorzulesen, ohne Mikrofon, aber doch so laut und deutlich, wie ich konnte. Eine unangenehme Erfahrung war das nicht.

  • Ein Loblied auf die Menschheit

    Wie kommt man durch die dunklen Pandemie-Wochen? Vielleicht, indem man das Virus sprechen lässt. Man muss nur genau hin-, also in sich hinein hören. Ein Traum.

  • Wir müssen da durch

    Ein paar Empfehlungen für diese Tage. Auch Bücher. Auch solche, die wenig mit Literatur zu tun haben. Das ist hier nicht der Bachmannpreis.

  • Eva Sichelschmidt, Licht an. Der große Schlaf

    "Ich war's nicht, Corona ist es gewesen", dies ist mein Mantra. Es ist, als hätte das Virus alle Schuldgefühle endlich ausgelöscht. Mein Dasein als Sorgenstaubsauger hat ein Ende.

  • Joachim Lottmann Lockdown Corona Wien Zeit der Zärtlichkeit

    Endlich ist Schluss mit den Lockerungen, in Wien ist alles wieder still. Dazu die Kälte. Schön. So kommt der Mensch zu sich. Über den Lockdown in der österreichischen Hauptstadt.

  • Thalia Kinos Filmgespräch Fühlen sie sich manchmal ausgebrannt und leer Regisseurin Lola Randl * Zeit für Trüffel, Sauerkraut und den Liebhaber

    Die Tage werden dunkler, die Pandemie bedrückender. Wie kommt man da durch?

  • Lutz Seiler Corona Licht an Es rauscht im Kieferngewölbe

    Was hilft durch die düstere, bedrückende Zeit der Pandemie? Gespräche auf Bänken mit Stulle und Thermoskanne - und Selbstgespräche unter Bäumen.

  • 'GOLIATH96' Premiere In Hamburg; Katja Riemann Man will nicht allein sein

    Grüner Tee am Morgen, Pfefferminztee am Abend und dort in Kontakt gehen, wo es möglich ist. Und es hilft in diesen Zeiten, mit vielen Mitbewohnern unterschiedlicher Herkunft zusammenzuwohnen.

  • Eva Menasse, österreichische Autorin; Eva Menasse Solange wir leben, bleibt das Beste immer möglich

    Ja, es kommen dunkle Wochen. Aber anstelle von weihnachtlichem Warenkapitalismus könnte es eine Zeit für das Detail sein, für die Überraschung. Und für die Dankbarkeit.

"Mein eindringlicher Appell lautet: Treffen Sie niemanden! Jeder soziale Kontakt ist ein sozialer Kontakt zu viel!"

Das sagt der junge Kanzler. Er sagt es nicht, er appelliert. Im Volk war der junge Kanzler einst so beliebt wie Kaiser Franz, doch jetzt beginnen die Untertanen zu murren, sogar gegen ihn, den letzten Hoffnungsträger Österreichs.

Ich halte das Gejammer nicht mehr aus. Sie jammern über ihre Kinder, die nicht mehr draußen spielen und nicht mehr in die Schule dürfen. Wer keine Kinder hat, jammert über Leute, die Kinder haben. Reiche jammern über Arme, die jetzt Homeschooling machen müssen und deswegen noch weniger verdienen, die Armen. Die Reichen jammern stellvertretend, um sich irgendwie abzulenken. Wir haben jetzt den Kontakt zu einigen von ihnen abgebrochen.

Meine Frau und ich jammern nicht. Der Prater-Park gehört nun uns. Im Sommer drängten sich hier Millionen, jetzt verschluckt der Nebel die wenigen Unerschrockenen. Es ist eiskalt geworden und dunkel wie die Nacht. Kein Virus überlebt im Prater-Park. Und auch die Lippen fühlen sich kälter an als beim ersten Lockdown.

Joachim Lottmann, 60, ist ein deutscher Schriftsteller und lebt in Wien. Anfang des Jahres erscheint sein neuer Roman "Sterben war gestern".

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: