Süddeutsche Zeitung

Libanon:Wie die Familie Hariri den Libanon prägt

Und warum der Niedergang der Unternehmerdynastie nichts Gutes ahnen lässt.

Gastbeitrag von Pierre Jarawan

Ein Gerücht macht die Runde, und es dauert nicht lange, bis es die Taxifahrer erreicht: Saad Hariri, der Ministerpräsident von Libanon, ist nicht freiwillig zurückgetreten! In West-Beirut, mehrheitlich von Sunniten bewohnt, fällt das Wort Kidnapping zuerst. Hier, im Schatten der Minarette, wo die Obsthändler ihre Stände aufgebaut haben, wird das Gerücht wie Zitronen weitergereicht, bis es weiter südlich in Viertel gelangt, in denen hauptsächlich Schiiten leben. Dort, unter den gelben Fahnen der Hisbollah, nehmen sie das Wort auf und fügen ihm ein weiteres hinzu: Verschwörung! Inzwischen ist das Gerücht auch in den christlichen Vierteln Ost-Beiruts angekommen. Unter dem Läuten der Kirchenglocken und der Musik in den Cafés legt es sich auf die besorgten Gesichter.

Am Abend rollen die Taxifahrer an der Al-Amin-Moschee vorbei. Sie biegen am Hafen auf die Küstenstraße und halten im Erzählen inne, wenn sie das St. Georges Hotel passieren. Hier steht die Statue von Rafiq al-Hariri, der 2005 an dieser Stelle ermordet wurde.

Beiruts neues Stadtzentrum glänzt in Ocker, Häuser von der Farbe frisch geheilter Haut

Mit ihm beginnt die Geschichte der Hariri-Familie. Und die Geschichte Saad Hariris, der Anfang November mit seinem Rücktritt vom Amt des Ministerpräsidenten Schockwellen durch den Nahen Osten sandte, lässt sich nicht ohne die seines Vaters erzählen. Es ist eine Geschichte, die man sich oft erzählt in den Gassen Beiruts, wo zwei Mal am Tag der Strom ausfällt, wo die Häuser außerhalb des Stadtkerns von Einschusslöchern übersät sind, Narben eines Bürgerkriegs, der 1975 begann und erst nach fünfzehn Jahren endete. Die Geschichte einer Dynastie, so glamourös wie tragisch, mit deren Auf und Ab die jüngere Geschichte von Libanon zusammenhängt. Obwohl - oder weil - sie in Saudi-Arabien ihren Anfang nimmt.

Hier, wo er seit 1965 lebt und arbeitet, profitiert Saads Vater Rafiq al-Hariri vom Ölpreisboom der Siebzigerjahre. Schnell steigt er in den Zirkel der Königsfamilie auf, wird zunächst zum Staatsbürger und dann zum Botschafter des saudi-arabischen Königreichs in London ernannt. Er erwirbt die Firma Saudi Oger, investiert im Bau- und Immobiliensektor und wird zum Milliardär, der im Königshaus ein- und ausgeht. Es ist sein Kapital, mit dem Rafiq al-Hariri sich in den Achtzigerjahren in das Bewusstsein der Libanesen katapultiert.

Beirut - wie Berlin damals geteilt - ist zu diesem Zeitpunkt weitgehend zerstört. Die israelische Armee liefert sich in Libanon Kämpfe mit der syrischen Armee, die seit 1976 im Land ist, die zahlreichen Milizen bekämpfen sich gegenseitig; es ist ein Chaos, das der libanesische Schriftsteller Raschid al-Daif folgendermaßen beschreibt:

"Der Krieg war dann aber kein Kampf von Arm gegen Reich, sondern von Arm und Reich gegen Reich und Arm. Palästinenser bekämpften sich untereinander, Syrer kämpften mit Palästinensern gegen Christen, dann mit Christen gegen Palästinenser. Schließlich die Christen untereinander und gegen die Drusen, alle miteinander und gegeneinander - wer sollte das verstehen?"

In diesen Zeiten spendet Rafiq al-Hariri Millionen Dollar für Kriegsopfer und beginnt von Saudi-Arabien aus in den Wiederaufbau zu investieren und die Bürgerkriegsparteien zu Kompromissen zu bewegen, die letztendlich zum Frieden führen. In dieser Phase zementiert sich das Bild Hariris, das seine Anhänger gerne pflegen: der Patriot im Exil, der mit weinendem Auge auf das Vaterland blickt und heimkehrt, um bessere Zeiten einzuläuten. 1992 kehrt Hariri zurück. Als Sunnit kann er für das Amt des Ministerpräsidenten kandidieren, das Volk gibt ihm das Vertrauen.

Doch Hariri bleibt auch Unternehmer. Seine Firma Solidere wird zum Inbegriff des Wandels: historische Gebäude werden abgerissen, Megaprojekte wie die Beirut Souks und andere Luxusimmobilien beschlossen und umgesetzt - Beirut wird zum größten Bauprojekt der Welt, nichts soll mehr an den Krieg erinnern. Das neue Stadtzentrum glänzt in Ocker, Häuser von der Farbe frisch geheilter Haut. Bald gehören weite Teile des Zentrums dem Hariri-Clan. Später, wenn man sich diese Geschichte in den Randbezirken erzählt, in den schimmelfeuchten Häusern, wo die Rohre lecken, wo sich Müllsäcke vor den Türen stapeln, wo das Trinkwasser verunreinigt ist, wird man Hariri-City sagen und lachen.

Das Verhängnis der Familie Hariri wird mit dem der Kennedys verglichen

Politisch folgt eine Zeit des Aufschwungs. Die Touristen kehren zurück in das Land, an das sie sich als die Schweiz des Nahen Ostens erinnern: Beirut als ein Ort des Lichts, verwegene Architektur, ein perlglänzendes Mittelmeer und rauschende Nächte im Casino du Liban, Libanon auf dem Weg zur alten Anziehungskraft. Doch hinter der Fassade rumort es. Die schiitische Hisbollah, früher Miliz, heute Partei, erstarkt politisch und militärisch unter Mithilfe Teherans. Die syrische Armee weigert sich nach Kriegsende abzuziehen. Weite Teile der libanesischen Politik werden von Damaskus aus gelenkt. 1998 legt Hariri sein Amt aus Protest gegen diese Einflussnahme nieder.

Khalil Gibran, der bekannteste Dichter des Landes, schrieb 1932: "Habt Mitleid mit dem Volk, das in Splitter zerfallen ist, von denen jeder sich selbst für ein Volk hält." Diese Zeilen beschreiben perfekt die Staatsform, die elf Jahre später folgen sollte. Achtzehn anerkannte Religionen gibt es in diesem Land, das rund vier Millionen Einwohner hat und kleiner ist als das Bundesland Hessen. Die wichtigsten politischen Ämter werden aufgrund der Konfession vergeben: Der Staatspräsident ist maronitischer Christ, der Ministerpräsident Sunnit, der Parlamentschef Schiit. Auch die Zusammensetzung des Kabinetts erfolgt nach konfessionellem Proporz.

Was nach einem guten Kompromiss klingt und was die Herrschaft einer Religionsgruppe über die anderen verhindern soll, ist in Wahrheit der Geburtsfehler dieses Landes. Regiert werden kann nur, wenn die Eliten zusammenarbeiten. Und diese Eliten sind teilweise seit Jahrzehnten verfeindete Familien oder ehemalige Warlords, die mit wenigen Ausnahmen am Bürgerkrieg teilhatten, von Amnestiegesetzen profitieren und darauf aus sind, ihre nächsten Verwandten an den Zirkel der Macht heranzuführen - es ist ein System, das feudale Züge trägt, das effiziente Politik verhindert und Klientelismus und Korruption begünstigt. Und es ist anfällig für den Einfluss mächtiger Drittstaaten.

In diesem Punkt unterscheidet sich Rafiq al-Hariri von den meisten Politikern am Kabinettstisch: Er hat nie die Verhaftung, Entführung oder Ermordung politischer Rivalen angeordnet, ist nicht in die Geschichte des Bürgerkriegs verstrickt. Zwar steigt die Staatsverschuldung und sinkt das Wirtschaftswachstum in seiner Zeit als Ministerpräsident, und sein privates Vermögen multipliziert sich um ein Vielfaches, dank der Vermischung seiner politischen und unternehmerischen Interessen, doch für die meisten Libanesen bleibt er eine Ausnahmeerscheinung. Als er 2000 erneut kandidiert, wird er wieder zum Ministerpräsidenten gewählt, doch auch diese Amtszeit endet 2004 mit seinem Rücktritt; erneut ist die Einmischung aus Damaskus der Grund.

Die Taxifahrer, die das St. Georges Hotel passieren, erzählen von der Detonation im Februar 2005. Hier, sagen sie, hier ist sein Konvoi auf die Küstenstraße abgebogen. Wenn sie erzählen, wie der Tatort schnell und ohne Beweisaufnahme geräumt wurde und wer alles von den Plänen gewusst haben muss, dann flüstern sie.

Dort, wo Hariri begraben liegt, einen Steinwurf entfernt von der großen Moschee, hängen Bilder von ihm vor einem Fahnenmeer, das an die Zedernrevolution erinnert, im Zuge derer über eine Million Libanesen den Abzug der syrischen Armee fordern. Nach dreißig Jahren militärischer Präsenz in Libanon und direkter Einflussnahme auf die libanesische Politik zieht Syrien sich drei Monate nach dem Attentat vollständig aus Libanon zurück.

Hariris Tod wird zum Mythos, er selbst zur Schicksalsfigur. Das Verhängnis der Familie wird mit dem der Kennedys verglichen, die Hariris sind überlebensgroß. Im Schatten der Olivenbäume, wo die Erzähler sitzen, wird das Leben der Hariri-Kinder in leuchtende Vokabeln gehüllt: Fünf Söhne und eine Tochter, ein Leben in Wohnpalästen und auf Yachten, Flüge mit der eigenen Flotte, Residenzen in Paris, London, Riad, Wangenküsse mit Königen und Prinzen, ein Wirtschaftsimperium, das sich von Saudi-Arabien ausgehend in die arabische Welt verzweigt. Und in den Garküchen nebenan flimmern die Bilder der Trauernden über die Fernsehschirme, die Familie verkündet, dass Saad, der Zweitälteste, auf den Vater folgen soll.

Zwei Parteienallianzen prägen die Politik von Libanon seit dem Tod Rafiq al-Hariris. Die von seinem Sohn Saad geführte sunnitische Zukunftsbewegung ist die dominante Gruppierung innerhalb eines Bündnisses, das eine antisyrische Haltung auszeichnet, das mit dem Widerstand gegen Assad sympathisiert und von Saudi-Arabien mitfinanziert wird. Ihr gegenüber steht eine Allianz, die von der schiitischen Hisbollah geführt wird, welche Assad unterstützt und mit Iran verbündet ist.

Nach dem Tod seines Vaters stellt sich Saad Hariri nicht sofort als Ministerpräsident zur Wahl. Erst 2009 kandidiert er und wird gewählt. Doch nach nur zwei Jahren zerbricht seine Regierung. Der Grund: Sechs Jahre nach dem Attentat auf seinen Vater kommt das UN-Sondertribunal für Libanon, das für die Aufklärung des Anschlags zuständig ist, zu dem Schluss, dass hochrangige Hisbollah-Mitglieder sowie Politiker der Schutzmacht Syrien an der Verschwörung beteiligt waren. Empört über die Anschuldigungen verlassen die Minister der Hisbollah die Regierung.

Die folgenden Jahre verbringt Saad Hariri hauptsächlich im Ausland, während Libanon politisch gelähmt bleibt. Zwischen 2014 und 2016 scheitern insgesamt fünfundvierzig Versuche, einen Staatspräsidenten zu wählen, während mehr als eine Million Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien ins Land kommen und die Oppositionen sich auf syrischem Boden militärisch gegenüberstehen. Das Hariri-Imperium gerät in Schieflage, der Konzern Saudi Oger taumelt in die Zahlungsunfähigkeit, das Vermögen der Familie schrumpft. Es gibt neue Gerüchte: Angeblich steht Hariri bei saudischen Banken tief in der Kreide, politisch betrachtet hat er kaum noch Unterstützer in Riad, wo man sich mehr um den Einfluss Irans am Golf und in Syrien sorgt als um Libanon.

Um, wie sein Vater, ein zweites Mal in das Amt des Ministerpräsidenten zurückzukehren, geht Hariri 2016 einen Weg, der bei weiten Teilen seiner Anhänger Entsetzen hervorruft. Als Pakt mit dem Teufel bezeichnen sie seinen Entschluss, den prosyrischen und von der Hisbollah unterstützten Präsidentschaftskandidaten Michel Aoun zu billigen, um im Gegenzug als Ministerpräsident ernannt zu werden. Hariri begründet den Schritt offiziell mit der Notwendigkeit, eine Einheitsregierung zu bilden, um das Übergreifen des syrischen Konflikts auf Libanon zu verhindern. Als Demonstranten 2016 die saudische Botschaft in Teheran stürmen und Libanon dies nicht entschieden verurteilt, friert das saudische Königshaus eine Finanzhilfe von vier Milliarden Dollar ein. Hariri, so scheint man es in Riad zu sehen, taugt kaum noch zum Statthalter in Beirut. Am 31. Juli stellt Saudi Oger, der Konzern, auf dem das Hariri-Imperium wirtschaftlich fußt, die Geschäftstätigkeit ein. Im Oktober 2017 schickt die libanesische Regierung als erstes arabisches Land wieder einen Botschafter nach Damaskus. Am 3. November bestellt der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman Hariri nach Riad, wo dieser am nächsten Tag seinen Rücktritt verkündet.

Der Libanon ist nun wieder Schauplatz für den Konflikt zwischen Saudi-Arabien und Iran

In den folgenden vierzehn Tagen, in denen Hariri im Königreich bleibt, scheint aus den Gerüchten Gewissheit zu werden. International wird Kritik an der möglichen Einflussnahme Saudi-Arabiens laut. Auch um die Gerüchte, er werde festgehalten, zu zerstreuen, begibt sich Hariri am 18. November auf Einladung Macrons nach Frankreich, dem Land, von dem Libanon 1943 unabhängig wurde. Am Abend vor dem Unabhängigkeitstag, dem 22. November, landet Hariri wieder in Beirut.

Es ist ein Bild mit Symbolkraft, das sich den Fernsehkameras an diesem Tag während der Militärparade im Zentrum der Hauptstadt bietet: Libanons politische Führung demonstriert auf der Tribüne Geschlossenheit, während sich am Zaun gegenüber nur wenige Bürger eingefunden haben. Die Unabhängigkeit ist eine Inszenierung, der die Libanesen selbst nicht glauben. Auch wenn Hariri wenige Stunden später unter dem Jubel seiner Anhänger den Rücktritt vom Rücktritt verkünden wird, ist klar, dass das Land nach einer kurzen Phase der Stabilisierung wieder zum Schauplatz für den Konflikt zwischen Saudi-Arabien und Iran geworden ist. Kronprinz Mohammed bin Salman muss Hariris Kehrtwende wie eine Provokation erscheinen.

Am Abend kriecht der Verkehr durch die Stadt, die Taxifahrer hupen und erzählen, der Rafiq-Hariri-Airport ist nicht weit entfernt, doch die Fahrt kann ewig dauern. Sie führt aus dem Zentrum, wo nur wenige Touristen in den Straßen flanieren, vorbei am Campus der American University, und die Taxifahrer erzählen von dem Geld, das sie für ihre Kinder sparen, damit diese ins Ausland gehen und Arbeit finden können, denn hier gibt es kaum welche. Draußen, an den Randbezirken, spielen die Flüchtlingskinder vor Zeltstädten im Staub. Was passiert jetzt, werden die Fahrer gefragt. Was wird aus Saad? Was wird aus den Wahlen im kommenden Jahr? Wieder eine Phase der politischen Lähmung und Unsicherheit? Es dauert ein wenig, bevor sie antworten, vielleicht, weil sie nicht verstehen, wie man so etwas fragen kann: Es ist alles wie immer, oder?

Der Autor ist Schriftsteller und wurde 1985 als Sohn eines libanesischen Vaters und einer deutschen Mutter in Amman, Jordanien, geboren, nachdem seine Eltern Libanon während des Bürgerkriegs verließen. Sein Roman "Am Ende bleiben die Zedern" ist 2016 im Berlin-Verlag erschienen.

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Quelle:
SZ vom 27.11.2017/doer
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