Liao Yiwu: "Die Kugel und das Opium":Dem Schrecken ganz nah

Literatur, Dokument, Mahnmal: Der diesjährige Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels, Liao Yiwu, schreibt in "Die Kugel und das Opium" über Leben und Tod am Platz des Himmlischen Friedens. Aus Mikrogeschichten von Verhaftungen, Folter und Zwangsarbeit strickt er ein Panorama der chinesischen Gesellschaft.

Ina Hartwig

Friedenspreis für den chinesischen Autor Liao Yiwu

Ein Literat, der nach Worten sucht: Der chinesische Autor Liao Yiwu wird am Sonntag in Frankfurt mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.

(Foto: epd)

Selbst im Abstand von gut zwei Jahrzehnten bleibt die explosive historische Gemengelage von 1989 im Grunde unfassbar. Es beginnt mit der Fatwa gegen Salman Rushdie und seine Unterstützer am 14. Februar: Der islamische Fundamentalismus steht vor einer fürchterlichen, anhaltenden Karriere. Am 4. Juni werden die friedlichen Massendemonstrationen in Peking gnadenlos zusammengeschossen: der Anfang vom Ende des Volkskommunismus in China. In Berlin fällt am 9. November die Mauer: Der Kalte Krieg sackt in sich zusammen. Und bedenkt man, dass all diese weltverändernden Ereignisse ohne Handy, Twitter und Youtube vonstattengegangen sind, können einem durchaus Zweifel kommen, ob der Anteil der digitalen Kommunikationstechnik in der Beurteilung heutiger Aufstände nicht überschätzt wird.

Der diesjährige Friedenspreisträger Liao Yiwu jedenfalls lebte und litt in der entscheidenden Phase seines künstlerischen Lebens ganz und gar in der archaischen Sphäre von Dichtung und Gesang, Hunger und Gehirnwäsche, Widerstand und fliegendem Gerücht. Pünktlich zur Preisverleihung in der Frankfurter Paulskirche am kommenden Sonntag erscheint nun sein drittes Buch auf Deutsch, "Die Kugel und das Opium", das eben jene epochalen Ereignisse um den 4. Juni 1989 einfängt. Es ist ein wichtiges, großes Buch - halb Literatur, halb Dokument und vor allem Mahnmal. Ein Mahnmal, das nicht am Ort des Geschehens aufgestellt wird, am Platz des Himmlischen Friedens in Peking, sondern dort, wo der 1958 in der Provinz Sichuan geborene Schriftsteller seit vorigem Jahr im Exil lebt, in Deutschland, genau: in einem Druckerzeugnis des S. Fischer Verlags.

Autoren wie Liao Yiwu beeindrucken allein durch ihre erschütternde Biografie - Hunger in der Kindheit, Umerziehungsmaßnahmen während der Kulturrevolution, Verfolgung, Gefängnis, Exil. Es besteht die Gefahr, dass angesichts ihrer politischen Bedeutung ihr literarisches Können unterschätzt wird. Dabei zeigt gerade Yiwus letztes Buch "Für ein Lied und hundert Lieder" (2011) über seine Zeit in chinesischen Gefängnissen, was für ein ausgezeichneter Literat hier nach Worten sucht - nach Worten, die beweisen, dass die menschliche Würde mit Füßen getreten wird, dass die Scham im Schlamm erstickt, dass aber der Wille zur Literatur nicht zu zerstören ist. Die Literatur stellt sich dem Grauen, und sie besteht vor ihm.

Schon Imre Kertész hat sich vehement gegen Adornos berühmtes Diktum ausgesprochen, das besagt, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben sei barbarisch. Wie könnte die Literatur auf dieses Thema verzichten!, so Kertész voller Empörung. Sein "Roman eines Schicksallosen" hat Auschwitz bekanntlich ein einzigartiges literarisches Denkmal gesetzt. Und erst vor Kurzem haben die endlich ins Deutsche gebrachten "Erzählungen aus Kolyma" des jahrzehntelangen Lagerhäftlings Warlam Schalamow die bewundernde Aufmerksamkeit der Kritik auf sich gezogen. Denn auch Schalamow greift nach dem Elend bei Dauerhunger und Dauerfrost, nimmt sich die Vertierung der sowjetischen Häftlinge in Kolyma vor, um eine Literatur zu schreiben, die etwas Universelles einfängt - etwas, das die Menschennatur betrifft.

Parolen, Schläge, Blut

Vielleicht sollte man hier tatsächlich von anthropologischer Literatur sprechen. Wenn Liao Yiwu die Ereignisse am Tiananmen in Beijing (wie es im Buch stets chinesisch heißt) schildert, so geht es zwar um sehr konkrete Dinge - Parolen, Schläge, Blut -, zugleich aber um das, was der Mensch will. Was er aushalten kann. Was Angst bewirkt. Was Mut bewirkt. Was der Preis ist. Und es geht darum, jede Stimme als einzelne Stimme anzuerkennen in einem Land, in dem das Leben des Einzelnen wenig bis nichts zählt.

Den größten Teil nehmen insgesamt fünfzehn lange Interviews in Anspruch; darunter auch ein Selbstinterview, in dem Yiwu einiges über seine harte Kindheit unter Maos Kulturrevolution erzählt, als sein Vater, ein Lehrer, inhaftiert wurde. Der Sohn wird ihm später nachfolgen: Vier Jahre Haft für sein Gedicht "Massaker", geschrieben nach dem 4. Juni, das der Dichter auf Tonband gesprochen und herumgereicht hat; verurteilt wird er für "Verbreitung konterrevolutionärer Propaganda".

Über sieben Jahre hat Liao Yiwu im Untergrund sogenannte Rowdys interviewt, die es zum Teil viel länger als er in vollgepferchten, vor Gestank dampfenden Zellen aushalten mussten, in denen oft der reinste Sadismus unter den Häftlingen sich austobte, besonders wenn Kriminelle sich an den Küken vom Tiananmen labten. Einer der Interviewten erzählt wortreich, wie ein Mithäftling die Bandwürmer seines eigenen Stuhlgangs vor den Augen des Zellenbosses herunterwürgen musste, ohne dabei Ekel zeigen zu dürfen. An derlei Details ist das Buch reich.

Aus "Rowdys" werden gebrochene Männer

Während der Massenproteste waren die Interviewten jung und gerieten, ohne eine politische Agenda gehabt zu haben, in die Glut der Ereignisse hinein. Sie konnten sich zum Teil nicht vorstellen, eben weil sie mit den Idealen des Volkskommunismus groß geworden waren, dass die heldenhafte Volksarmee auf das eigene Volk schießen würde. Grünschnäbel, pubertierende Jungs, "Jungfrauen", wie Yiwu betont, die mit arglosem, situationsbedingtem Optimismus sich den Soldaten, den Panzern, den Waffen in den Weg stellten, die mitliefen, mitriefen - "Nieder mit Deng Xiaoping" -, die die Demonstranten mit Essen versorgten oder einem Soldaten ein Eis reichten.

Liao Yiwu

Für sein Gedicht "Massaker" wird Yiwu zu vier Jahren Haft verurteilt. Der Tatvorwurf: "Verbreitung konterrevolutionärer Propaganda".

(Foto: dpa)

Was als friedlicher Studentenprotest begonnen hatte, wurde, auch das zeigt dieses Buch eindrücklich, von ganz einfachen Menschen, einschließlich einiger (weniger) Soldaten, von Busfahrern, Schaffnern oder alten Leuten aus der Nachbarschaft mitgetragen. Die "Rowdys" hatten Pech, erwischt zu werden (viele ihresgleichen kamen davon und wollten später nichts mehr davon wissen). Sie wurden wegen "Brandstiftung", "Sabotage", "bewaffneter Rebellion" oder "Aufwiegelung" zu langen Haftstrafen verurteilt oder gleich zum Tode, manchmal willkürlich umgewandelt in "lebenslänglich mit Umerziehung", was bedeutete: krank machende Sklavenarbeit.

So mussten viele Häftlinge Tag und Nacht kistenweise Latexhandschuhe prüfen (per Aufpusten, wie Luftballons), die an amerikanische Firmen geliefert wurden; dies zum Stichwort Globalisierung. Bitter heißt es im Eingangskapitel: "International kursierte die Behauptung, die wirtschaftliche Entwicklung könne politische Reformen mit sich bringen und die Diktatur in Richtung Demokratie bewegen. Woraufhin die verschiedenen westlichen Länder, die wegen des 4. Juni Sanktionen gegen die chinesischen Kommunisten verhängt hatten, sich überschlugen, mit den Mördern Geschäfte zu machen (. . .)."

Noch heute sitzen etliche der damals Verurteilten in chinesischen Gefängnissen; einige von ihnen werden im Anhang dokumentiert. Jene, die Liao Yiwu bei heimlichen Treffen in schäbigen Hotelzimmern oder bescheidenen Kneipen in das Aufnahmegerät sprechen lässt, sind in der Mehrheit seelisch gebrochene Männer. Keiner der ehemaligen Häftlinge hat den Anschluss an die neue Zeit geschafft, in der "die Liebe zum Vaterland durch die Liebe zum Geld" ersetzt worden ist, wie einer sich ausdrückt.

Sie leben auf engstem Raum bei ihren Eltern oder streunen herum; niemand will sie haben, niemand will an die unrühmliche Vergangenheit erinnert werden. Und die, die sich erinnern, haben Angst. Die wenigsten konnten ihre Ehe retten, ihre Kinder haben sich voll Abscheu abgewandt, als die kahlrasierten Monstergestalten aus der Haft zurückkamen.

Aussätzige einer neuen Gesellschaft

Die Libido ist in der Haft systematisch kaputt gemacht worden; darüber schreibt Yiwu radikal, lakonisch, ohne Tabus. Die meisten sind körperlich einsam. Sie sind Aussätzige einer neuen Gesellschaft, die über den 4. Juni 1989 den schweren Mantel des Schweigens geworfen hat. Nur wenige der ehemaligen Häftlinge haben sich einen gesunden Zynismus und bissigen Witz bewahrt.

"Opium betäubt und verwischt das Gedächtnis an das Massaker", steht am Anfang dieses so beeindruckenden wie bedrückenden Buchs. Und dann folgt die verzweifelte Frage: "Gibt es denn keine Alternative zu dem Opium des Booms, das die chinesische Diktatur exportiert?" Am Ende findet sich eine Liste von 202 Todesopfern des Massakers vom 4. Juni, ein Bruchteil der Getöteten, in mühevoller Recherche gesammelt von den "Müttern des Tiananmen".

So paradox es auch klingen mag, aber dieses geschickt komponierte (und von Hans Peter Hoffmann geschmeidig übersetzte) Buch entfaltet selbst die Alternative, indem es den vielen Mikrogeschichten von Verhaftungen, Hausdurchsuchungen, Beschlagnahmungen, Enteignungen, Folter und Zwangsarbeit ein komplexes menschliches Panorama der chinesischen Gesellschaft zu entlocken versteht. In der Begründung der Friedenspreis-Jury heißt es, Liao Yiwu begehre "sprachmächtig und unerschrocken" gegen die politische Unterdrückung auf. Sprachmächtig - ohne Frage. Aber unerschrocken? Doch eher im Gegenteil: Der Schrecken kommt voll und ganz zu seinem Recht.

Liao Yiwu: Die Kugel und das Opium. Leben und Tod am Platz des Himmlischen Friedens. Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann. Mit einer Liste von 202 Todesopfern des Massakers auf dem Tiananmen, bereitgestellt von Ding Zilin und Jiang Peikun. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012, 430 Seiten, 24,99 Euro.

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