Süddeutsche Zeitung

Nachruf:Gefallener Engel

Seine Karriere startete sagenhaft, war in jüngster Zeit jedoch von Missbrauchsvorwürfen überschattet. Nun ist Choreograf Liam Scarlett tot.

Von Dorion Weickmann

Mit nur 35 Jahren ist der Choreograf Liam Scarlett am 16. April zu Hause im britischen Ipswich gestorben. Das teilte seine Familie mit, ohne weitere Details bekannt zu geben. Damit endet nicht nur ein junges Leben, sondern eine sagenhaft gestartete, seit geraumer Zeit jedoch schwer beschädigte Karriere.

Im August 2019 suspendierte das Royal Ballet London seinen damaligen Hauschoreografen aufgrund sexueller Belästigung, die ihm von Schülern der Royal Ballet School zur Last gelegt worden war. Eine Untersuchung fand statt, die juristische Verfolgung unterblieb. Ob die Verfehlungen verjährt, minder gravierend oder inexistent waren, wurde nicht mitgeteilt. Tatsache ist, dass Scarlett im März 2020 seinen Posten räumen musste und seitdem zahlreiche Aufträge verlor. Am Tag seines Ablebens informierte eine Pressemitteilung des Königlich Dänischen Balletts, dass man Scarletts "Frankenstein"-Inszenierung nicht übernehmen werde. Der Choreograf, hieß es weiter, habe 2018 und 2019 bei Proben am Haus "inakzeptables Verhalten" an den Tag gelegt.

Mit Scarlett verliert die Ballettwelt eine ihrer größten Nachwuchshoffnungen. Bereits seine erste Choreografie "Asphodel Meadows", 2010 in London uraufgeführt, beeindruckte mit feinfühliger Präzision und erstaunlicher Fantasie. Scarletts Schöpfungen trieben das Ballett in düstere Ecken und figurative Exzesse. Zugleich haftete selbst Schockern wie "Sweet Violets" über Jack the Ripper etwas Verspieltes, Leichtfüßiges und Schwereloses an. 2012 switchte der Tänzer des Royal Ballet in die Rolle des Hauschoreografen, zugleich begann sein internationaler Aufstieg. Von Miami bis Queensland brachte er Kreationen heraus, in London durfte er noch vor zwei Jahren Teile einer legendären "Schwanensee"-Aufführung überarbeiten.

Erst im Januar hat das Bayerische Staatsballett "With a Chance of Rain" ins Repertoire genommen. Liam Scarletts Einstand in München ist nun zugleich sein Abschied geworden. Ein tragischer und trauriger Fall.

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