Sänger Lewis Capaldi:"Danke für das kostenlose Essen, Elton John"

Lewis Capaldi

Sieht aus wie der kleine Bruder von Ed Sheeran, der immer zu spät zur Bandprobe kommt, weil er wieder verschlafen hat: Lewis Capaldi.

(Foto: Alexandra Gavillet)
  • Der Song "Someone You Loved" von Lewis Capaldi erklomm kürzlich die Spitze der Billboard-Charts, "Bruises" wurde auf Spotify innerhalb kürzester Zeit 25 Millionen Mal abgerufen.
  • Der 23-Jährige ist von Instagram über Twitter bis Tiktok überall, hauptsächlich, um sich über sich selbst und sein Leben als gefeierter Popstar lustig zu machen.
  • Wenn man Capaldis interdisziplinäres Werk studiert, stellt man fest: Das Zweitbeste an Lewis Capaldi ist seine Musik.

Von Nora Reinhardt

Im Pop bekommt man meist, was man sieht. Frank Sinatra sah aus wie ein lässiger Hund und sang wie einer, Adele schmettert wie eine Grande Dame und trägt bei ihren Auftritten Abendkleid, Lil Nas X, der Rapper mit Cowboyhut, klingt wie eben das: ein Rapper, der mit dem Country flirtet; und dann gibt es Lewis Capaldi. Er ist 23, klingt wie ein 50-jähriger Bluessänger, sieht aber aus wie der kleine Bruder von Ed Sheeran, der immer zu spät zur Bandprobe kommt, weil er wieder verschlafen hat.

Lewis Capaldi erklomm mit "Someone You Loved" kürzlich die Spitze der Billboard-Charts, als erster Schotte seit fast 40 Jahren, genauer seit Sheena Easton's "Morning Train (Nine to Five)" im Jahr 1981. Capaldis Durchbruch war sein Song "Bruises", der auf Spotify innerhalb kürzester Zeit 25 Millionen Mal abgerufen wurde, noch bevor er einen Plattenvertrag hatte. Eine Stadiontour wurde angekündigt, ehe das Debütalbum veröffentlicht war.

Die Verehrung, die Lewis Capaldi vor allem junge Hörer entgegen bringen, lässt sich mit der Musik allein allerdings nicht erklären. Seine Songs sind eingängige, aber minimalistische, pianolastige Balladen, gesungen mit warmer, körniger Stimme. "Someone You Loved" wurde einmal der "böse Zwilling" von Adeles "Someone Like You" genannt. Das kommt gut hin. Er driftet nie ins Kitschige ab, es gibt keinen aufdringlichen Streicherleim. Lewis Capaldi singt im besten Sinne klassische, traurige Liebeslieder. Was also hat er, was die vornehmlich jungen Fans zu Tausenden in seine Konzerte pilgern lässt?

Backstage in München, trägt er ein weißes Sweatshirt, das sowohl seine Gesichtsfarbe als auch seine unschuldige Ausstrahlung betont. Dass er erkältet ist, die Kordel zur Schleife gebunden ist und ein Teddybär aufgestickt sind, tut das Übrige. Später wird sich zeigen: Er geht in diesem Outfit auch auf die Bühne. Lewis Capaldi, inzwischen "America's Sweetheart" genannt, klingt dabei aber weder nach Sweetheart noch nach Amerika, er ist aus der schottischen Kleinstadt Bathgate und jedes i klingt wie ein e, in jedem Satz verwendet er mindestens ein Fuck. Sein Vater ist Fischhändler, seine Mutter Krankenschwester, einer seiner besten Freunde, Michael, ist Totengräber. Verstehen die, was ihm gerade passiert? "Nein", sagt er. Und setzt nach: "Ich übrigens auch nicht."

"In den Pubs habe ich vor allem gelernt, laut zu singen"

Wer mit ihm redet, merkt schnell, dass seine Allzweckwaffe die Selbstironie ist. "Popstar ist mein erster Beruf", sagt er und grinst. Gelernt hat er den bei Auftritten in Glasgows Pubs. Capaldi, das wird schnell klar, hat ein Talent zur Pointe. Als er anfing, in Pubs zu spielen, war er gerade elf Jahre alt und versteckte sich auf der Toilette, bis sein Name aufgerufen wurde und keiner ihn mehr am Singen hindern konnte. "Meine Eltern hatten nichts dagegen", sagt er. "In den Pubs habe ich vor allem gelernt, laut zu singen". Und vermutlich, aber das sagt er nicht, hat er dort auch gelernt, wie man ein Publikum begeistert.

Während zwölf Jahre Berufserfahrung im Alter von 23 Jahren in der Musikbranche normalerweise nur die mitbringen, die im Schweinwerferlicht oder dem Disney-Universum aufwuchsen, strahlt Lewis Capaldi eine robuste Fröhlichkeit aus. Beim Konzert wird er scherzen: "Ich weiß, dass viele im Publikum nur hier sind, weil sie mitgeschleppt wurden." Dann ruft er denen entgegen: "Mögt ihr Rock'n'Roll????" Applaus! Capaldi: "Dann seid ihr hier falsch!" Gelächter. Seine Shows sind spontan, amüsant und ähneln Comedy-Auftritten, bei denen in der Pause Songs gespielt werden. Die Attraktion ist Lewis Capaldi, mit allem, was er mitbringt. Und das war offenbar so geplant.

Lewis Capaldi

"Popstar ist mein erster Beruf": Der schottische Sänger Lewis Capaldi.

(Foto: Alexandra Gavillet)

Sein Entdecker und Manager Ry Walter sagte einem englischen Branchenmagazin, dass ihm "von Anfang an" wichtig gewesen sei, dass Lewis Capaldis "Persönlichkeit herauskommt". Wieso? Es sei "verrückt", dass es mittlerweile Künstler mit Millionen Streams gebe, die trotzdem "keine 200 Tickets" verkauften.

Lewis Capaldis Handy brummt, er entschuldigt sich. Das Hintergrundbild ist sein rotes Albumcover. Wie hat er den Nummer-1-Erfolg mit der Band gefeiert? "Noch gar nicht", sagt er. "Ich trinke auf der Tour gar keinen Alkohol, ist zu schlecht für meine Stimme." Was ist aus Sex, Drugs und Rock'n'Roll geworden? "Sodbrennen", antwortet der 23-Jährige und muss selbst lachen. Sex? "Kein Sex." Drogen? "Drogen sind nicht so mein Ding. Und Inhalieren zerstört meine Stimme." So klingt das Tourleben 2019. Ein Besäufnis wenigstens sei aber schon geplant. Für den Dienstag nach der Tour.

Der Guardian schrieb sinngemäß, Ed Sheeran habe den Weg für die "normalen Jungs", jene Künstler ohne Traumkörper, verrückte Outfits und Neurosen geebnet. Zwischen all den geschniegelten Künstlern war Ed Sheeran ein Typ, mit dem sich das Publikum identifizieren konnte. Das erklärt Lewis Capaldis Erfolg allerdings nur zum Teil, denn er hat Sheeran, der sein Debüt 2011 veröffentlichte, etwas Wesentliches voraus. Während der lange nicht einmal ein eigenes Handy hatte, ist Lewis Capaldi von Instagram über Twitter und Tiktok überall. Hauptsächlich, um sich über sich selbst und sein Leben als gefeierter Popstar lustig zu machen.

Fragt man ihn, wie er davon erfuhr, dass er in den USA in den Charts ganz oben steht, erzählt er die Geschichte so, dass er wie ein Trottel dasteht, der alleine im Flieger nach Madrid sitzt und vergeblich versucht, Wifi zu kaufen, um nichts zu verpassen, um dann auf der Fahrt vom Flughafen im Auto von seinem Manager am Telefon überrascht zu werden und nichts Erhabeneres zu sagen als "Verdammtnochmal!" Sarkasmus liegt ihm fern, Capaldis Humor ist feiner.

Lewis Capaldi

Das Zweitbeste an Lewis Capaldi: seine Musik.

(Foto: Alexandra Gavillet)

Selbst als Noel Gallagher sich abfällig über ihn äußerte, zeigte er sich erfreut darüber, mit ihm Streit zu haben und trug beim Auftritt in Glastonbury vor 60 000 Menschen einfach ein Shirt mit Gallaghers Gesicht in einem Herz. Weiterer Vorteil seiner Selbstironie: Er kränkt niemanden. Capaldi hat es geschafft, bislang keinen einzigen Shitstorm zu provozieren. Beachtlich, gemessen an der Menge seines Social-Media-Outputs (täglich) und der Anzahl seiner Social-Media-Manager (keine).

Berüchtigt sind die Videos, die Capaldi aufnimmt. Es sind oft großporige Nahaufnahmen, in denen er einfach vor sich hinredet. Er veröffentlichte ein ambitioniertes, aber kryptisches Musikvideo zu "Bruises": Menschen auf einem weiten Feld mit Rauchschwaden, ein Mob hinter einem Zaun. In nur ein paar Tagen wurde es mehr als zwei Millionen Mal angesehen, dann filmte sich Lewis Capaldi beim Ansehen des Musikvideos: Sieht man den Rauch, sagt er: "Das ist ein Grillfest in meinem Garten." Zwei Hipster stehen sich gegenüber, Stirn an Stirn, darauf Capaldi: "Wer sind diese Typen?" Mehr Menschen kommen aufs Feld. Capaldi: "Ich hab zwar gesagt, man kann jemanden mitbringen. Aber so viele Würstchen haben wir auch wieder nicht. Meine Mutter wird ausrasten."

Im Sommer lud ihn Elton John auf sein Anwesen bei Nizza ein

Capaldi ist der erste Popstar, der das Original-Video und das lustige Persiflage-Video aus einer Hand liefert. In einer Zeit, in der man fast nicht mehr ernsthaft Werbung für etwas machen kann, versteht er es, ironisch gebrochen Werbung zu machen - indem er sich selbst dabei auf die Schippe nimmt. Sein Album heißt "Divinely Uninspired To A Hellish Extent", als sei er vollkommen untalentiert. Anders gesagt, je länger man sein interdisziplinäres Werk studiert, stellt man fest: Das Zweitbeste an Lewis Capaldi ist seine Musik.

Lewis Capaldi

"Wenn einem Elton John das rät", sagt Lewis Capaldi über die Idee, mal alleine eine Nummer am Klavier zu spielen.

(Foto: Alexandra Gavillet)

Backstage liegt noch der Laptop auf dem Tisch, an dem gerade noch Musik geschnitten worden sein muss, daneben stehen Songtitel auf Papierschnipseln, die er gleich noch auf die Setlist kleben muss. Hier bastelt die Nummer 1 noch selbst. Capaldi ist ein wohlerzogener Popstar, der zwar oft flucht, aber mindestens genauso oft "Thank you, cheers" sagt.

Im Sommer, erzählt er, lud ihn Elton John auf sein Anwesen bei Nizza ein. Capaldi, dem eigentlich nichts heilig ist, merkt man da dann doch an, dass ihm das Treffen viel bedeutete. Hühnchen habe es gegeben, Gemüse, Shrimps, "sehr viel gesundes Zeug". Er spricht zwar "Shrimps" mit einem ploppenden p wie ein Feine-Leute-Essen aus, aber ansonsten fehlt der typisch ironische Unterton. "Elton John sagte mir, 'Bruises' sei sein Lieblingslied. Er hat das Album wirklich ordentlich durchgehört, er kannte mehr als nur den einen Song!" Hat er ihm einen Tipp gegeben? "Er sagte, ich soll mal eine Nummer alleine am Klavier spielen. Das mache ich dann auch auf der nächsten Tournee. Wenn einem Elton John das rät. . ."

Es gibt ein Foto von der Begegnung, auf dem die Beiden innig nebeneinander grinsend unter einem Sonnenschirm sitzen: der alte Typus des Popstars neben dem des neuen.

Elton John sieht dabei aus wie Elton John, mit rosagetönter Brille und einem Blumenhemd. Lewis Capaldi trägt einfach ein schwarzes T-Shirt. Das Foto teilten beide. Elton John schrieb ernst: "Verbringe den Tag mit dem nächsten britischen Superstar: Lewis Capaldi". Capaldi schrieb in seinem ganz eigenen Tonfall: "Mein Leben ist verdammt verrückt. Danke für das kostenlose Essen, Elton John". Elton Johns Foto bekam mehr als 200 000 Likes, Capaldis mehr als 800 000.

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