Am Ortsausgang liegt das Gerippe eines Wals. Es ist einfach da, wenn man zur Bucht hinuntergeht, am Rand der Brackwassers. Seine wuchtigen weißen Knochen, halb in Sand und Schlick versunken, prägen das zentrale Bild von Andrej Swjaginzews "Leviathan" - vielleicht auch deshalb, weil sie eine Art Gerüst bilden für die Ideen, die diesen bemerkenswerten Film dann antreiben.
Denn dort oben im Nordwesten Russlands, an der Küste der Barentssee, herrscht Überlebenskampf. In der Natur sowieso, aber auch in der Gesellschaft. Wenn du ein Wal bist, bleib weg von der Küste, und wenn du ein Mensch bist, bleib weg von der Macht. Sonst wirst du stranden, und die Mühe, deinen Kadaver wegzuräumen, wird sich niemand machen. Selbst wenn du jahrelang am Ortsausgang vor dich hinrottest.
Wobei die Natur hier sehr schön ist, wild und erhaben. Gleich zu Beginn sieht man mächtige Wellen brechen, zu Klängen von Philip Glass. Und Nikolai Sergejew, der Automechaniker, hat einen herrlichen Blick auf die Bucht, gleich bei der Brücke, in einem einfachen, aber sehr komfortablen Holzhaus, das er selbst gebaut hat. Er könnte ein zufriedener Mann sein: kräftig, trinkfest und krisensicher in seinem Handwerk, das immer gebraucht wird, egal was passiert.
Im Stiernacken Putins Porträt
Zwar ist die Frau, mit der er einen Sohn hat, schon vor Jahren gestorben. Aber er hat wieder geheiratet, eine jüngere, Lilia. Sie war mal die Schönheit des Städtchens, das kann man noch sehen, auch wenn die Arbeit in der Fischfabrik ihr in letzter Zeit etwas zusetzt. Der Sohn, fünfzehn Jahre alt, akzeptiert sie nicht wirklich als Mutter, aber das sind so die Probleme, die man als Mann eben hat.
Wäre da nicht dieser Blick auf die Bucht, der ein bisschen zu schön ist, muss man wohl sagen. Nikolais Grundstück hat jedenfalls das Begehren des Bürgermeisters geweckt, der ein fetter, schwitzender, stiernackiger Machtmensch ist - wie man sich einen russischen Funktionär eben so vorstellt. An der Wand direkt hinter ihm hängt ein Porträt von Wladimir Putin. Unergründlich und verschlagen schaut Putin auf den Bürgermeister herab, und dieser schaut unergründlich und verschlagen auf seine Gemeinde. Jedenfalls will er bauen auf dem Grundstück, er hat große Pläne. Also muss Nikolai vertrieben werden - für eine lächerliche Entschädigung.
Die erste größere Aktion des Films ist die Urteilsverkündung in dem Prozess, in dem Nikolai sich wehrt. In zwei Instanzen, das wird dabei klar, hat er bereits verloren, dies ist die dritte und letzte. Die Richterin verliest das Urteil in Rekordgeschwindigkeit, die fette, schwitzende Staatsanwältin schläft dabei fast ein. Es werden eine Menge Paragrafen der Russischen Föderation zitiert, die es bestimmt sogar gibt - doch Nikolais Niederlage steht längst fest.
Wer die Macht hat, hat auch Recht
Verstörend ist dabei nicht die Idee, dass Russland kein Rechtsstaat ist. Wen sollte diese Erkenntnis schocken? Verstörend ist die Routine dieser Simulation - die furchtbare Langeweile der Offiziellen in der Exekution eines Verfahrens, das die Betroffenen noch einmal verhöhnt und immer zum selben Ergebnis führt: Wer die Macht hat, hat auch das Recht auf seiner Seite, und am Ende den Besitz.
In den einzelnen Figuren geht das bis an der Grenze der Karikatur, aber es ist auch sehr komisch. So sieht man die Russen weltweit gern, was ohne Zweifel dazu beigetragen hat, dass "Leviathan" im Westen schon einige Akkoladen einsammeln konnte: Bestes Drehbuch in Cannes, ein Golden Globe in Hollywood, eine Oscarnominierung - plus ein seltenes 99 Prozent-Positiv-Ranking auf der Filmkritik-Übersichtsseite Rotten Tomatoes.
Die Russen selbst freut diese Zustimmung allerdings weniger, insbesondere nicht den Kulturminister Wladimir Medinski. Hier würden nur Vorurteile des Westens "opportunistisch" bedient, klagt der - und ärgert sich öffentlich darüber, dass ein staatliches Fördergremium, das seinem Ministerium unterstellt ist, etwa ein Drittel des Filmbudgets finanziert hat. So etwas dürfe nicht wieder vorkommen. Russische Steuerzahler, so Medinski, sollen in Zukunft nicht länger für Filme aufkommen, die "offen auf unsere Regierung spucken" und "vom Geist der Verzweiflung und existenzieller Sinnlosigkeit durchzogen sind".
Den allmächtigen Staat einmal überlisten - das ist dem Regisseur Andrei Swjaginzew hier offenbar gelungen, und davon träumt auch weiterhin Nikolai, der Entrechtete. Er setzt nun auf die Hilfe eines alten Freundes aus der Armee, der inzwischen Anwalt in Moskau ist. Der reist an, stellt ein paar Recherchen an und legt dem stiernackigen Bürgermeister schließlich ein Dossier voller Verfehlungen vor, das diesem tatsächlich den Schweiß auf die Stirn treibt.
Angstvoll erkundigt sich der Bürgermeister beim orthodoxen Bischof, wie er da wieder herauskommen soll - und vor allem, was Gott dazu sage. Gott sagt dazu gar nichts, lautet die Antwort, solange du regelmäßig zur Messe kommst und der Kirche viel Geld spendest - ansonsten hilf dir selbst. Das tut der Bürgermeister dann auch, im Bund mit einem Schlägertrupp in Trainingsanzügen, der den vorwitzigen Anwalt halb tot zurück in einen Zug nach Moskau befördert - seine Kontakte nach ganz oben waren offenbar nur Bluff.
Swjaginzew sucht die biblischen und philosophischen Anklänge des "Leviathan"
Zurück bleiben, ja was wohl? Verzweiflung und existenzielle Sinnlosigkeit. Denn eins hat der clevere Anwalt aus der Großstadt sehr wohl geschafft - mit Nikolais psychisch labiler Frau zu schlafen. Nikolai verzeiht ihr irgendwie, als Nächstes aber wird sie als Wasserleiche aus dem Meer gezogen - und der verzweifelte Nikolai auch noch des Mordes angeklagt . . .
Hier tritt der Film nun ins Reich der Parabel ein, werden Bezüge zur biblischen Gestalt des Hiob offenbar, die der Regisseur als Inspiration nennt. Einmal lässt er einen Priester, dem Nikolai auf der Straße sein Leid klagt, sogar direkt aus dem Buch Hiob zitieren: "Ziehst du den Leviathan mit der Angel herbei und hältst du mit dem Seil seine Zunge nieder - wird er dich lange anflehen, wird er einen Bund mit dir schließen, dass du ihn als Knecht nimmst?"
Nein, all das wird der Leviathan ganz sicher nicht tun - er ist nämlich, als biblisches Seeungeheuer, eine Chiffre für das Unbezähmbare schlechthin. Ähnlich allmächtig taucht das Monster bekanntlich auch in Thomas Hobbes' politischer Philosophie auf, als Sinnbild des Staates, den die Menschen sich aus Furcht geschaffen haben. Andrej Swjaginzew, der Regisseur und Autor des Films, sucht diese philosophischen und religiösen Anklänge durchaus - sie sind auch in den preisgekrönten Filmen zu finden, die er davor gedreht hat, etwa in "Die Rückkehr" (2003) und "Die Verbannung" (2007). Zugleich funktioniert sein Kino aber auch simpler und vitaler. Immer geht es auch um ganz reale Familienbeziehungen - und um so praktische Dinge wie das Auswerfen einer Angelschnur oder das Ausnehmen eines Fischs.
Lenin, Breschnew, Gorbatschow als Zielscheiben
In "Leviathan" wagt sich der Regisseur sogar erstmals ans Komödiantische - und so entsteht dann trotz Verzweiflung und Sinnlosigkeit ein durchaus vitales Bild des russischen Nordens. Zum Beispiel sind nicht alle Polizisten nur böse Staatsdiener, zwei nennt Nikolai seine Freunde. Auf einer gemeinsamen Landpartie mit Frauen, Kindern und Schusswaffen wird sehr viel Wodka getrunken, noch bevor der erste Schaschlikspieß überhaupt auf dem Grill liegt. Und als die Flaschen, die als Zielscheiben dienen, umgeschossen sind, holt einer der Männer gerahmte Porträts von ehemaligen Sowjetgrößen aus dem Kofferraum: Lenin, Breschnew, Gorbatschow. . .
"Hast du denn keinen von heute mitgebracht?" fragt Nikolai, der Rebell.
"Ist noch nicht gekommen, die Zeit für die von heute", sagt sein Kumpel.
Bevor dann wirklich auf die ehemaligen Staatschefs geschossen werden kann, nimmt der Film eine andere Wendung, aber die Idee bleibt wie Schaschlikduft in der Luft hängen: Alle Macht endet irgendwann in der Abstellkammer - nur der Leviathan, der Monsterstaat, wird wohl ewig weiterleben. Bis die Menschen sich wirklich zusammentun, um den Traum des Hiob wahr zu machen - und ihn endlich an die Angel zu legen.
Lewiafan , Russland 2014 - Regie: Andrej Swjaginzew. Buch: Swjaginzew, Oleg Negrin. Kamera: Michail Kritschmann. Schnitt: Anna Mass. Musik: Philip Glass. Mit Alexej Serebrjakow, Jelena Ljadowa, Roman Madjanow . Verleih: Wild Bunch, 142 Min .