Süddeutsche Zeitung

Letzte Sätze:Und es war alles, alles gut

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Welcher letzte Satz der deutschsprachigen Erzählliteratur ist Ihnen besonders wichtig? Autorinnen und Autoren geben Auskunft über die Kunst des Aufhörens.

Thomas Lehr

Der letzte Satz, schreibt der Redakteur. "Mit freundlichen Grüßen." Wohl zu formelhaft. Ich schließe die Augen. "Mehr Licht?" oder "Schwester, ich fürchte die Ente ist voll." Der letzte geschriebene Satz ist aber gemeint, ein Kunstsatz selbstverständlich. Sofort fallen mir drei Sätze von James Joyce ein. Erstens der seiner Molly Bloom, die den "Ulysses" mit einem siebzigseitigen Satz beendet und diesen selbst mit einem wunderbaren: "ja ich will Ja." Zweitens das Ende von "Finnegan's Wake", das ich wohl nie auf dem natürlichem Weg (des linearen Lesens) erreichen werde: "A way a lone a last a loved a long the" (Einmal mit der schlichtesten Affirmation, einmal mit dem allerweltlichsten Allerweltsartikel endend, the, ohne Punkt). Drittens der großartige jahresendzeitliche Schluss vom fallenden Schnee in der Erzählung "Die Toten", der aber ebenso wenig gelten soll, weil er auf Englisch geschrieben ist und man ihn übersetzen müsste. Ach was, liebe polyglotten Facebook-Freunde: "His soul swooned slowly as he heard the snow falling faintly through the universe and faintly falling, like the descent of their last end, upon all the living and the dead."

Ein deutscher Endsatz soll es also sein. Ich wüsste einen hoffnungsvollen, nachgerade utopischen, wenn auch elliptischen, den noch dazu mehrere Autoren erfolgreich gleich lautend verwendet haben. Das kann ich nicht machen. Wird also nicht fortgesetzt. Doch es gibt tatsächlich einen Schlusssatz, den ich auswendig kann, womöglich weil er Relativitätstheorie-verdächtig ist oder zum Ausdruck bringt, dass die ganze Welt immer nur auf die Gelegenheit wartet, bei der sie komplett als Ganzes in ihrem raserischen Irrsinn über uns hinwegrauschen kann: "In diesem Augenblick ging über die Brücke ein geradezu unendlicher Verkehr."

Thomas Lehr ist Schriftsteller und lebt in Berlin. Zuletzt erschien von ihm 2017 der Roman "Schlafende Sonne" im Hanser Verlag, mit dem er auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand.

Marion Poschmann

Döblins "Wallenstein" ist ein Monumentalroman, ein Buch der Maßlosigkeit, der Überdehnung und der Unvernunft. Es handelt vom Dreißigjährigen Krieg, dadurch begründet sich sein unzumutbarer Umfang, rechtfertigt sich die unerhörte Materialschlacht, Exzerpte, Notizen, Visionen, über Hunderte Seiten ausgebreitet, redundant bis zur Widerwärtigkeit, aber doch gleichzeitig vollgestopft mit Stellen, die so brillant sind, dass man sie nie wieder vergisst. Ein Sumpf mit Mücken, der tödliche Krankheiten ausbrütet, und noch immer sehe ich jede einzelne Mücke fotorealistisch vor mir.

Eine Hexenverbrennung, beschrieben wird das Geräusch, mit dem die Haut platzt, wie trockene Erbsen, die auf den Boden fallen. Bilder von Gewalt und Verderben, dann wieder unendliche Heeresbewegungen, jahrelang ziehen sie von hier nach dort, Abbild der Sinnlosigkeit, die sich ins Nervensystem einnistet, die man nicht wieder loswird, ein Antikriegsroman par excellence. Insofern ist der letzte Satz dieses Romans schon allein deshalb so gut, weil es der letzte ist und die Erleichterung, am Ende der Kampfhandlungen angekommen zu sein, so unerhört groß.

Mit einem einzigen letzten Satz ist es allerdings bei einem solchen Werk nicht getan. Man muss mit Aufschüben rechnen, mit scheinhaften Enden, mit Trugschlüssen. Der Kobold: "Schaukelte den Körper auf den großen Ästen, knurrend stirnrunzelnd." Es gibt mehrere letzte Sätze, letzte und allerletzte, die die Funktion haben, das ersehnte Ende hinauszuzögern, noch einmal und noch einmal den Fokus zu verändern. Die Schlacht: "Sie warteten in frischer Kraft auf ihr Signal, um sich hineinzuwerfen." Döblin bringt die verschiedenen Handlungsebenen nacheinander zu einem Abschluss, aber vor allem geht es darum, sie noch ein letztes Mal gegeneinander auszuspielen, alles noch ein weiteres Mal aufzuschaukeln und dann in der Luft, am höchsten Punkt, stehen zu lassen.

Marion Poschmann ist Schriftstellerin und Dichterin. Sie lebt in Berlin. Zuletzt erschien von ihr 2017 der Roman "Die Kieferninseln" im Suhrkamp Verlag, mit dem sie auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand.

Brigitte Kronauer

" ... und es war alles, alles gut" Ob man das Ende von Eichendorffs "Aus dem Leben eines Taugenichts" als leicht ironisch liest oder für bare Münze nimmt, unleugbar ist das romantische Wehen einer weltbesänftigenden Melodie. Dabei war das reale Leben des Autors als bescheiden bezahlter Beamter in preußischen Diensten zum Zeitpunkt des Verfassens ganz anders geartet. Keineswegs war alles gut. Von dieser milden Musikalität bestimmt ist auch Eckhard Henscheids durch ihn selbst so bezeichnete "Idylle", und zwar ausnahmslos, bis in jede Beobachtung, bis in jeden Satz. Alles, was in "Maria Schnee" dem wandernden Protagonisten Hermann widerfährt, erscheint im sanften Spiegel seines kindlichen, reichlich komische Effekte erzeugenden Gemüts. Es besiegt alle Grobheiten des Lebens durch diese Perspektive.

Das gilt für die Banalitäten des Wirtshauses, dem der würdige Herr Hubmeier vorsteht, wie für das Grausige eines Handels, bei dem eine junge Mutter in der Gaststätte dem dort vorübergehend rastenden Hermann ihr Baby verkauft, um das Eintrittsgeld für ein Rockkonzert zu bekommen. Selbst das Schnöde des Geschäfts wird durch Hermanns Arglosigkeit in ein erträgliches Licht getaucht. Er besiegt, einfach durch seinen Blick nicht nur die Trivialität des Wirtshausdunstes, sondern wunderbarerweise auch die herzlose Wirklichkeit des Babyverkaufs (der auf einer wahren Begebenheit fußt!), die er durch sein begütigendes Wesen verwandelt, eine Realität, der er ungeahnte Möglichkeiten für die Dauer seiner Gegenwart beschert.

"Mit der flachen fächelnden Hand winkte er Hermann bewegt und freundlich zu und ihm noch lange nach." Alles ist zusammengefasst in diesem unauffälligen, jedoch fast zärtlichen Schlusssatz, mit dem der alte Gastwirt Hubmeier Abschied nimmt von seinem Gast, in dem er den Abgesandten einer besseren Welt zu ahnen scheint.

Brigitte Kronauer ist Schriftstellerin und lebt in Hamburg. Zuletzt ist von ihr 2016 der Roman "Der Scheick von Aachen" bei Klett-Cotta erschienen.

Nico Bleutge

Er habe, schreibt Peter Handke in seinem "Wunschlosen Unglück", nur mit "stumpfsinniger Sprachlosigkeit" auf die Nachricht vom Selbstmord seiner Mutter reagiert. Bei der Beerdigung aber sei plötzlich ein so starkes Bedürfnis spürbar gewesen, über die Mutter zu schreiben, dass er nun, fast sieben Wochen später, unbedingt anfangen müsse. Ja, es sei eine richtige "Arbeitsanstrengung" nötig, damit er nicht einfach mit der Schreibmaschine immer den gleichen Buchstaben auf das Papier klopfe.

Und diese Anstrengung ist erfolgreich. Handke klopft viele, viele Buchstaben auf das Papier, bis er bei seinem letzten Satz angelangt ist: "Später werde ich über das alles Genaueres schreiben." Ein Satz, der wie ein harmloses Versprechen klingt. Doch er greift zugleich in die Vergangenheit aus, auf den geschriebenen Text. Und in dieser Hinsicht ist er verblüffend. Denn auf den hundert Seiten zuvor hat Handke nichts anderes versucht, als genau zu sein. Er hat nicht nur das Leben und den Tod seiner Mutter erzählt, er hat auch fortwährend über die Art seines Schreibens nachgedacht. Und das ist in diesem Fall viel mehr als bloß eine kokette Selbstreflexion des Textes. Beide Momente sind unauflösbar miteinander verbunden. Die Mutter schien in der von Verdrängung, Rollenklischees und sozialer Härte bestimmten österreichischen Kriegs- und Nachkriegsgesellschaft auf dem Land, wie es einmal heißt, "systematisch entmenscht" worden zu sein. Aufgabe des Schreibenden war es nun, diese Bewegung nicht zu wiederholen, nicht selbst in Floskeln, Formeln und Typisierungen zu enden. Andererseits kommt Sprache ohne Verallgemeinerungen nicht aus, und sie kann, umgekehrt, zu persönlich sein. An diesem doppelten Paradox arbeitet sich das Buch ab. So ist es nur konsequent, das ganze Unternehmen am Ende für gescheitert zu erklären - und damit zugleich zu bestätigen. Genauer geht es nimmer. Und genauer geht es immer.

Nico Bleutge ist Dichter und Literaturkritiker. Er lebt in Berlin. Zuletzt erschien von ihm 2017 der Gedichtband "nachts leuchten die schiffe".

Marcel Beyer

Nach fast sieben Monaten Schreibzeit beendet Karl May die Arbeit an "Winnetou IV", wie im Text selbst vermerkt ist, "jetzt, Ostern 1910". Kaum aber hat er den letzten Satz formuliert, zieht er eine gestrichelte Linie darunter und setzt noch einmal neu an, indem er notiert: "Das ist der Schluß des vierten Bandes." Woraufhin etwas Seltsames geschieht: Karl May betätigt sich offen als Kopist. Seltsam ist das, weil dieser Autor zeit seines Schriftstellerlebens Nachrichten aus fernen Ländern mit Vorliebe Zeitungen und Reiseführern entnommen hat, um auf ihrer Grundlage Reisen im Kopf anzutreten, die er zum Vergnügen seiner Leser wie zum Verdruss seiner mit den Jahren immer harscher vorgehenden Kritiker als tatsächliche Reisen ausgab. "Winnetou IV" dagegen setzt ein mit Reiseeindrücken aus erster Hand, die Karl May auf seiner späten, zugleich ersten und letzten Amerikareise im Jahr 1908 gewonnen hat.

Fast ist es, als traute er der eigenen Wahrnehmung nicht, oder als verspürte er unbewusst das Bedürfnis, sein bisheriges Verfahren, aus Gelesenem Erlebtes werden zu lassen, offenzulegen: Wort für Wort kopiert Karl May die Zeitungsmeldung von einem in New York geplanten "Standbild eines riesigen Indianers", einem "Gegenstück" zum "Standbild der Columbia in der New Yorker Hafeneinfahrt", das "die Schuld des Landes gegen die aussterbende Rasse der ,ersten Amerikaner'' symbolisieren" soll.

Während in Paris die Kubisten Zeitungsausrisse in ihre Gemälde integrieren, kopiert Karl May in Radebeul eine Zeitungsmeldung in seine letzte Reiseerzählung. Und schreibt, als allerletzten Satz nicht nur dieses vierten Bandes, sondern der gesamten "Winnetou"-Reihe: "Ich frage: Ist das nicht interessant?"

Marcel Beyer ist Schriftsteller, Dichter und Essayist. 2016 wurde er mit dem Büchnerpreis ausgezeichnet. Er lebt in Dresden. Zuletzt ist von ihm "Das blindgeweinte Jahrhundert" im Suhrkamp Verlag erschienen.

Deborah Feldman

Der singuläre Zeuge der Europäischen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts, Czesław Miłosz, wirft in seiner Lebensgeschichte "West und Östliches Gelände" ein Licht auf unsere Gesellschaft als Ganzes, das einerseits höchst analytisch beleuchtet, anderseits aber sich in keinem einzigen Moment von den formverschiebenden Schatten des Persönlichen abschirmen lässt. Der letzte Satz seiner Autobiografie: "Wenn wir, vom Ehrgeiz getrieben, uns über die einfachen, von den Armen im Geiste gehüteten moralischen Grundsätze erheben, statt sie inmitten der Wandelbarkeit zur Kompaßnadel zu erwählen, dann wird das zunichte, was allein unseren Wahnsinn und unsere Fehler zu rechtfertigen vermag: die Liebe."

Der Satz zeigt die Grundhaltung von Miłosz in ihrem Kern. Er mahnt uns: Selbst, wenn wir denken sollten, unsere Rettung durch eigene Leistungen erbringen zu können, so sollten wir doch niemals vergessen, was uns erst zu Menschen macht, was wir mit allen anderen teilen, von denen wir stets glauben, so unendlich unterschieden zu sein. Miłosz stellt die Ratio selbst in Frage, er zerschmettert die Arroganz und Selbstzufriedenheit des klassischen Intellektuellen wie vom Dach geworfenes Porzellan, und zwar mit einer Wut und Trauer, die nur seiner eigenen schmerzhaften Erfahrung entstammen kann. Es ist gefährlich anzunehmen, dass wir allein dadurch, dass wir denken, auch schon richtig lägen und unsere eigenen Regelwerke bestimmen dürften. Wo andere uns rationale Erklärungen und Lösungen anbieten wollen, weicht Miłosz zurück, in einer Geste der Demut, die nur von dem Verständnis genährt ist, dass kein Frieden je von Denkern, Politikern oder Schriftstellern etabliert wurde, sondern allein von der Bescheidenheit des menschlichen Alltags, dem vergessenen Mut und der unbelohnten Großzügigkeit in allen wahren, physischen Verbindungen.

Deborah Feldman ist Schriftstellerin. Sie wurde in den USA geboren und lebt heute in Berlin. Zuletzt ist ihr autobiografischer Roman "Überbitten" im Secession Verlag erschienen.

Clemens J. Setz

"Während sie auf die Häuser zuschritten, fing es zu schneien an, leicht und in feinen Flocken, wie Mehl, das aus einem großen Sieb auf sie niederfiel." So endet "Krabat" von Otfried Preußler, der erste Roman, der mir viel bedeutete, lange bevor ich Bücher las und mochte. Ich wusste nicht mal, dass es ein gedrucktes Buch war. Ich kannte es nur als dreiteilige Hörspielkassette, gelesen vom Autor selbst. Ich muss etwa sieben oder acht gewesen sein. Im Roman geht es um den Müllergesellen Krabat, der in der "Schwarzen Mühle im Koselbruch" das Zauberhandwerk erlernt und dabei der bösen Macht des Müllermeisters zu verfallen droht. Am Ende der Geschichte wird er durch die Liebe eines Mädchens, der "Kantorka" (benannt nach der Vorsängerinnenrolle, die sie während der Karwoche im Dorf ausübt) durch eine Art Treueprobe erlöst. Sie muss den in einen Raben verwandelten Krabat aus einer Gruppe Raben herauserkennen. Dies gelingt ihr: "Ich habe gespürt, dass du Angst hattest", sagt die Kantorka, "Angst um mich: daran habe ich dich erkannt." Das fand ich als Kind großartig. Ich hatte um so viele Menschen Angst, aber dass diese Empfindung etwas Kostbares sein könnte, wäre mir nie in den Sinn gekommen! Doch dem folgte noch ein Satz. Er störte mich jedes Mal, wenn ich ihn hörte. Denn er tat so, als ginge es noch irgendwie weiter. Normalerweise endete doch jede Geschichte mit der Feststellung, dass es nun keinen Grund mehr gab, sich weiter um die Figuren zu sorgen. Was geschah mit Figuren, die einfach so, ohne entzweizugehen, aus der Geschichte wanderten, hinein ins Unsichtbare? Dieser mehlartige Schnee, der am Ende des Buches fiel, wusste so viel mehr als ich. Er sah, was zu sehen mir nicht mehr erlaubt war.

Clemens J. Setz ist Schriftsteller und Übersetzer. Zuletzt ist von ihm 2015 bei Suhrkamp der Roman "Die Stunde zwischen Frau und Gitarre" erschienen.

Judith Schalansky

Ein Satz, der in einem Gespräch womöglich nicht ganz aufrichtig, im Grunde aber harmlos erscheint, kann als Schlusspunkt eines literarischen Textes Misstrauen und Furcht erregen, ja, einen das Fürchten lehren, zitiert man noch ein paar Sätze, die ihm vorangehen: "Ich bin gesund. Alles was ich erreichen konnte, habe ich erreicht. Ich wüsste nichts, was mir fehlt. Ich habe es geschafft. Mir geht es gut."

Wahrscheinlich glaubt die 40-jährige Ärztin Claudia sogar oder will glauben, was sie hier behauptet. Wir wissen es besser, haben wir sie, die Protagonistin und Ich-Erzählerin in Christoph Heins 1982 erschienener Novelle "Der fremde Freund", doch als eine höchst rationale, seelisch aber zutiefst verwundete Frau kennengelernt, die sich aus Angst vor Verletzungen die Welt, die Menschen und damit auch sich selbst so gut es geht vom Leibe halten will: "Meine undurchlässige Haut ist meine feste Burg", sagt sie an einer Stelle. Der titelgebende "fremde Freund", das ist nicht der Mann, mit dem sie eine oberflächliche Affäre verband, und dessen plötzlicher Tod zum Erzählanlass des Textes wird, eine Fremde ist sie sich vielmehr selbst und bleibt es bis zum Schluss. Das ist das eigentliche unerhörte Ereignis dieser Novelle. Die Lebensbilanz jenes "Mir geht es gut" ist so schrecklich, weil nun klar wird, dass Claudia, die wir durchaus als schwach und nahbar erlebt haben, sich vollends aufgegeben hat. Sie hat erreicht, sich in einem Leben einzurichten, ohne sich selbst begegnen zu müssen. Nicht wenige Menschen halten das für ein probates Lebensziel. Das letzte Wort ist damit noch nicht gesagt. Es folgt in einer neuen Zeile und lautet "Ende". Christoph Hein hatte es im Manuskript aus der Gewohnheit als Dramatiker hingeschrieben und vor Drucklegung entschieden, es stehenzulassen, um sich so doch noch einen Kommentar zu seiner Heldin zu erlauben.

Judith Schalansky ist Schriftstellerin und Herausgeberin. Sie lebt in Berlin. Beim Verlag Matthes & Seitz gibt sie die Reihe "Naturkunden" heraus.

Kathrin Schmidt

Ich wuchs in der DDR auf, wo christlicher Glaube abseits des Mainstreams, um es heutig auszudrücken, lag. Abseits des Mainstreams bedeutete in meinem Fall jedoch gleich hinter dem Haus, im Garten, neben den mütterlichen Beeten. Dort stand eine hölzerne Kleinkirche, die von der ortsansässigen evangelischen Gemeinde für Bibelstunden und Gottesdienste genutzt wurde. Nach Absprache mit meiner (gläubigen) Urgroßmutter ließ der Pfarrer während der Christenlehre, die er für eine Handvoll meiner Altersgenossen dort abhielt, bei gutem Wetter das Fenster offen, und ich konnte, darunter in der Sonne sitzend und Beeren zehrend, genüsslich mithören, wie Absalom sich mit seinem Haar im Baum verfing. Ein dissidenter Akt wider die Elternherrschaft. Von den Leiden des jungen Werther erfuhr ich später in der Schule. Und litt. Und war verzweifelt wie er, weil mein Angebeteter sich einer anderen Jungfer anheimgab.

"Kein Geistlicher hat ihn begleitet." Als ich den letzten Satz aus Goethes Briefroman zum ersten Mal las, verstand ich ihn erst nach einer kurzen Phase des Nachdenkens. Dass Werther, der Gute!, sich selbst getötet hatte, war mir so verständlich, so wenig verdammenswert, dass ich nicht darauf gekommen wäre, darin eine Sünde zu sehen. Und mich zugleich schuldig fühlte ob meines kindlichen Interesses an der Kirche, die Werther, seinerzeit, verdammt hatte. Heute glaube ich zunehmenden Rechtfertigungsdruck für Atheisten (wie mich) auszumachen. Mich braucht kein Geistlicher zu begleiten. Wenn aber ein Mensch, der ein Stück auf dem Weg mitkommen möchte, ein Geistlicher ist, so werde ich einen Teufel tun, ihn zurückzuweisen. Es ist mir, und zwar wirklich herzlich!, egal, was einer glaubt. Aber ebenso muss doch egal sein, ob überhaupt geglaubt wird, oder? Wir können uns freilich auch gleich die Kugel geben, bis niemand mehr da ist, uns zu begleiten.

Kathrin Schmidt ist Schriftstellerin und lebt in Berlin. Zuletzt ist von ihr 2016 der Roman "Kapoks Schwestern" bei Kiepenheuer & Witsch erschienen.

Antje Rávic Strubel

"Wir wissen, was kommt." So endet "Kein Ort. Nirgends" von Christa Wolf. Das Buch mag zu Ende sein, aber sein letzter Satz entlässt uns nicht in die uralte, tröstliche Möglichkeit der Literatur: "... und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute". Denn wir wissen auch, dass sich Heinrich von Kleist und Karoline von Günderrode, die Christa Wolf zu einer fiktiven Begegnung im Haus der Brentanos zusammenführt, an der Gesellschaft gescheitert, das Leben genommen haben.

Dieser Satz ist Warnung und Beschwichtigung zugleich. Ein Satz ohne Notausgang, aber mit einem bitteren Sicherheitsversprechen. Eine Zukunft, um die gewusst werden kann, ist eine wiedergeholte Vergangenheit. So zwingt mich der letzte Satz zurück in die Realität: Als ich jung war, hoffte ich, woanders eine Welt zu finden, eine andere, bessere, und schönere Menschen, tiefere, weisere. Ich musste dafür nicht weit gehen, das erledigte der Mauerfall. Die Mauer fiel. Und dann? Der Mensch taugt nicht als utopischer Entwurf. Das einzusehen, beendete nicht die Geschichte; auch wenn das Ende ausgerufen wurde. Die Geschichte spielt einfach keine Rolle. Sie hat noch nie einen Unterschied gemacht. Die europäische Landkarte war zerrissen, als Kleist sie sah, und reißt nun einmal mehr. Der Regen fällt weiter aufs Baruther Urstromtal. Die Afrikanische Platte drückt weiter gegen die Eurasische. Der Globus dreht sich in seinem Gelenk, während mit schöner Regelmäßigkeit der angestaute Dreck den Menschen eruptiv zu den Ohren hinausquillt; jedes Mal ein historischer Moment und jedes Mal nichts als wüste Zeiten des Aufruhrs, Krieges und Terrors. Uns hat so eine Zeit erwischt; wir wissen, was kommt.

Antje Rávic Strubel ist Schriftstellerin und Übersetzerin. Sie lebt in Berlin. Zuletzt erschien von ihr der Roman "In den Wäldern des menschlichen Herzens" beim S. Fischer Verlag.

Teresa Präauer

"So lagen sie beide schweigend, beide wohl auch ein wenig schlummernd und einander traumlos nah - bis es wie jeden Morgen um sieben Uhr an die Zimmertür klopfte und mit den gewohnten Geräuschen von der Straße her, einem sieghaften Lichtstrahl durch den Vorhangspalt und einem hellen Kinderlachen von nebenan der neue Tag begann." Letzte und erste Sätze betreffend hege ich grundsätzlich keinen Fetisch, und wie Arthur Schnitzler seine "Traumnovelle" beschließt, ist kaum herauszulösen aus dem Ganzen eines Handlungsbogens. Das Ende des Textes reicht, im Reigen der Ereignisse, dem Anfang die Hand, und das traumlose Schlummern, das auf das Treiben der Nacht nun die Besinnung des Tages folgen lässt, stellt die alltägliche Ordnung wieder her, noch während wir selbst das Buch beiseitelegen. Wie der verführerische, doch bedrohliche Traum aus dunkler Nacht dem Lichtstrahl durch den Vorhangspalt weichen muss, so muss auch für uns, die wir eben noch in Lektüre versunken waren, das traumlose Getriebe des Tagwerks wieder beginnen. Mit beiderseitigem Schweigen, einander doch nah, endet die Nacht, mit einem Klopfen, mit den Geräuschen der Straße und einem Kinderlachen, "von nebenan" reimt sich da auf "begann", kündigt sich bereits der Morgen an. Auf ein Neues!

Teresa Präauer ist Schriftstellerin und bildende Künstlerin. Zuletzt ist von ihr 2016 der Roman "Oh Schimmi" im Wallstein Verlag erschienen.

Lukas Bärfuss

"So lebte er hin." In diesem gewaltigsten und gleichzeitig gefährlichsten Schlusssatz der Weltliteratur, dem letzten in Georg Büchners Erzählung "Lenz", spiegeln sich so viele Fragen, dass einem schwindlig wird. Man könnte gut und gern ein paar Jahre, vielleicht ein ganzes Leben, mit seiner Erläuterung verbringen und würde an kein Ende kommen.

Hier zunächst nur dies: Niemand weiß genau, was dieser Satz aussagt. Der Duden verzeichnet zwei ganz gegensätzliche Bedeutungen des seltenen Verbes "hinleben". Einerseits "dahinleben", also ohne Ziel sein; andererseits genau das Gegenteil: "sein Leben auf ein bestimmtes Ziel ausrichten". Auch das Grimmsche Wörterbuch bringt keine Lösung, im Gegenteil. Zuerst führt es Belege auf für "weiter leben, verleben", schließlich als zweite Bedeutung auch hier der Gegensatz: "durch Leben zu Grunde richten" - was nur auf den ersten Blick seltsam erscheint, benutzen wir doch auch die Wendung "hin sein" im Sinne von tot, kaputt, zerstört.

Um Büchners Satz eindeutig auszulegen, fehlt eine Präposition. Entweder "Er lebte auf etwas hin", oder "Er lebte vor sich hin". Dieses Fehlen, dieses Schwanken zwischen zwei Bedeutungen, spiegelt eine existenzielle Erfahrung. Wir haben ein Ziel und finden keines. Wir leben und nähern uns damit dem Tod. Wir leben sterbend. Der Wahnsinn des Helden Lenz wird mit diesem letzten Satz zur Empfindung des Lesers. Wie Lenz bleiben wir ungetröstet, schwankend und am Ende unerlöst.

Lukas Bärfuss ist Schriftsteller und Theaterautor. Er lebt in Zürich, wo er bis 2013 am Schauspielhaus arbeitete. Zuletzt ist von ihm 2017 der Roman "Hagard" im Wallstein Verlag erschienen.

Norbert Scheuer

Die letzten Sätze stehen, wenn auch rätselhaft verborgen, am Anfang einer jeden Erzählung. Zu Beginn von "Silberluft" geht es um das Unsichtbare, das wie durch eine hauchdünne Wand getrennt von uns existiert. Am Ende der Geschichte steht ein junger, französischer Seemann in einer alten Seemannsschule vor einem der vielen Schaukästen mit rostigen Harpunen, Notflaggen, Lenzpumpen, geflickten Riemen, auf Holz fixierten Seemannsknoten, Rettungswesten, alten Karten und ausgebleichten Logbüchern. "Er steht, buchstabiert, lächelt. Vielleicht sagt er sich, sollte er sich hier niederlassen. Für immer." Der Seemann, der in der Geschichte nicht einmal einen richtigen Namen hat und längst gestorben ist, arbeitete auf einem Dorschfischer, er wurde schwer krank an der isländischen Küste in einem kleinen Hospital zurückgelassen. Die Geschichte handelt vom Leben dieses Mannes, von kleinen völlig unbekannt gebliebenen Details und Ereignissen, die längst vergangen aber doch noch immer anwesend sind, sie handelt von dem was Faulkner einmal über die Vergangenheit schrieb, dass sie nicht tot ist, sie nicht einmal vergangen sei. Der Seemann, der oft an seinen freien Tagen durch diese Seemannsschule schlenderte, die an ein Schloss ohne Zierrat erinnert, ist eigentlich nie von dort weggegangen, so wie wir alle einen Ort haben, an dem wir, wenn auch für andere unsichtbar, stehengeblieben sind, um unser Leben irgendwie von einem festen Punkt aus zusammen zu buchstabieren.

Norbert Scheuer ist Schriftsteller und lebt in der Eifel. Zuletzt ist von ihm 2017 der Roman "Am Grunde des Universums" im C.H. Beck Verlag erschienen.

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Quelle:
SZ vom 30.12.2017
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