Lesungsmarathon in Berlin:Die 24 Stunden von Le Schiller

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Sind seine Verse eigentlich auszuhalten, wenn man sie 24 Stunden lang am Stück hört? Die Beantwortung dieser Frage mag hinter der Tag- und Nachtlesung der Werke Schillers gestanden haben, die prominent besetzt in der Berliner Akademie der Künste stattfand. Von David Wagner

Großer Auftrieb im Neubau der Akademie der Künste am Pariser Platz. Der Berliner kommt gucken ("Ist das jetzt der neue U-Bahnhof?") und hört vielleicht auch zu, 111 mal Schiller, 24 Stunden lang. Von Samstag zwölf Uhr mittags bis Sonntag, gleiche Zeit. Vom Prolog zu Wallenstein bis zur Ode an die Freude. Vor dem eigentlichen Lesesaal immer Schlangen, doch Schiller ist im ganzen Haus zu hören, über alle Häkelhauben und Pelzmützchen hinweg. Um Viertel nach fünf, die Bundesligaschlusskonferenz geht zu Ende, liegt der Altersdurchschnitt bei etwa 57, weibliches Publikum überwiegt. Ein Martin-Walser-Doppelgänger putzt sich die Nase, ein Kind wirft seine Nuckelflasche aus dem Wagen, während Otto Schily denen, die ihm folgen können, mit seinem schnarrenden Nasal im Oberdeutschlehrerton Schillers Kant-Paraphrase über das Erhabene darlegt. "Das Gefühl des Erhabenen ist ein Gemischtes". Ach, wie wahr. "Gemischte Gefühle auch hier, bei mir", sagt mein Nachbar, seine Pathosallergie bricht aus, aber da geht Schilys Schillerbellen schon zu Ende.

Auch Innenminister Schily war dabei. (Foto: Foto: dpa)

Ist Schiller ein der SPD nahestehender Dichter? Ist das hier eine Lesung zu Ehren des ehemaligen SPD-Wirtschaftsministers Karl Schiller? Bis auf Richard von Weizsäcker, den man vor Jahrzehnten, vor seiner alldeutschen Heiligsprechung, noch mit der CDU in Verbindung bringen konnte, treten keine Oppositionspolitiker auf. "Vielleicht", sagt mein Nachbar, "halten nur Sozialdemokraten Schillers Humorlosigkeit aus".

Zwischen den klappernden Tellern wird die Hochleistungslesung zum Schillersäuseln, zum Schillermuzak. Schön, sich zu sehen. Sinn des Hierseins ist auch, sich gegenseitig zu photographieren oder Gummibaguettes zu kaufen und dann doch lieber nicht zu essen. Wir starren auf den Monitor und freuen uns über die von der Bildregie gefundenen, gut geschminkten, das Kameralicht aushaltenden Gesichter, die sich in all ihrer deutschen Tiefe bewegt zeigen und dies mit der entsprechenden Verständnisgymnastik beweisen.

In den dazwischen geschnittenen Panoramaschwenks über den Pariser Platz wird peinlich genau darauf geachtet, dass der Bauschuttcontainer und die beiden Chemie-Toiletten, die gleich unter den Fenstern der Suiten im Adlon stehen, nichts aufs Bild geraten.

Erster Höhepunkt nach sieben Stunden, Roman Trekel singt das langgezogene "Ewigkeit" aus Franz Schuberts "Gruppe aus dem Tartarus". Und ich für mich komme endgültig zu dem Schluss, dass Schillergedichte -- man höre Beethoven, höre Schumann "Der Handschuh", den Jan Buchwald am Sonntagmorgen singt -- überhaupt nur in Vertonungen auszuhalten sind.

Über dem Glasdach des Neubaus sammeln sich derweil die Krähen, kaum jemand legt Schal und Mantel ab, das Foyer ist kühl. Schillerverzweiflung macht sich breit, als zwei Kabarettisten sich an Schiller versuchen. "Wir sind alle Astronauten des Raumschiff Erde", lese ich auf einem langen, sich als Fußballschal tarnenden Intellektuellenschal. Rucksackträger schieben sich die Treppe hinauf, Pelzmäntel kommen herein. Der Auftritt der Berliner Gesellschaft, Samstag, kurz nach halb neun Uhr abends. Schillerinteressierte tragen gedeckte Farben, weiße Haare und Plastiktüten der Bundeskulturstiftung. Und nun, nach dem frühen Abendessen zu Maria Stuart: Nina Hoss und Corinna Harfouch rezitieren. Maria Stuart dauert nur noch sechs Minuten, geht also noch schneller vorbei als in einer Inszenierung von Michael Thalheimer.

"Ich bin hier, um Köpfe zu holen", sagt ein Photograph, sein Kollege fängt an, die Schillerbarbarellas ("Du musst nur mal lächeln") zu photographieren. Die Schauspielerinnen, die sich vor den wackligen Karton mit den Logos der Veranstalter stellen müssen, wissen das.

Eine Putzfrau in einem sympathischen, pistazienpastellfarbenen Kittel und einer mülltütenblauen Mülltüte in der Hand bewegt sich umsichtig und anmutig durch die schillererfüllten Räume, sammelt leere Becher und Papierservietten auf. Ein Mann in Kulturschwarz und Daniel-Libeskind-Brille auf der Nase, der tatsächlich Daniel Libeskind sein könnte, betrachtet den Bau. Buttons, lerne ich vom jungen Matthias Schweighöfer, eben noch in "Napola", demnächst als Fernsehschiller zu sehen, sind wieder in. Auf seinem, er trägt ihn an seinem schwarzen Rebellenjackett, das ein großes, wahrscheinlich eben vor dem Auftritt hineingeschnittenes Loch unter der linken Achsel hat, steht "Junge Helden".

"Es gilt den toten Punkt zu überwinden", erklärt der Kopfjäger, der heute schon mehr als 300 Köpfe photographiert hat. "Die Reihung der toten Punkte", ergänzt sein Kollegin, die auf die schönen Fernsehfrauen wartet. Esther Schweins zum Beispiel. Sie hat eine schöne Stimme. Schiller spricht durch sie über Anmut und Grazie, sie selbst trägt dabei über dem Handrücken diagonal geschnittene Handgelenkstulpen. Blinzelt sie mich nicht gerade an? Klimpern ihre Augenlider nicht in meine Richtung?

Und ich im Schillerrausch. Ich höre nicht mehr so recht auf die kritischen Fragen, die mein Nachbar mir stellt. Ob es sich bei dieser Veranstaltung nicht nur um eine große, von der Kulturstiftung des Bundes bezahlte Arbeitsbeschaffungsmaßnahme handele? Ob ein esoterischer, gebührenfinanzierter Randgruppenfernsehkanal sich hier nicht Programminhalte finanzieren lasse? Wer hier eigentlich für wen werbe? Otto Schily für das Erhabene? Jürgen Trittin für den Wald um den Vierwaldstätter See? Christina Weiss für sich selbst? Ob das die berühmte Bundeskultur sein solle? Ob hier nicht, ob ich das nicht riechen würde, irgendwo doch ein paar wurmstichige Äpfel herumlägen? Schiller soll die doch immer in seiner Schreibtischschublade gehabt haben, weil der Duft des Verfaulenden so inspiriere.

Ich höre nicht mehr zu. Ich schaue das neue Publikum an, das gekommen ist, um Bela B. von den Ärzten die "Beobachtungen bei der Leichenöffnung des Eleve Hillers" lesen zu hören. Oder die Hälfte des Jeans Teams sehen will. Oder das bewährte Hammond Inferno. Der Altersdurchschnitt ist auf Ende 30 gesunken.

Oben, im vierten Stock, im Prominentenhimmel, im Schillerhauptquartier, der Kommandobrücke des Barbarella-Raumschiffs, da, wo hoch über dem Pariser Platz die große Schillerorgie stattfinden könnte, sitzt Sophie Rois an der Bar, der Tatort-Kommissar raucht seine Feierabendzigarre, und die Kulturstaatsministerin sitzt inmitten ihres Hofstaats auf einem der schwarzen Bauhaus-Sofas. Die berühmte Shrek-Synchronsprecherin Schweins lehnt sich ans Fenster. Hinter ihr auf der Terrasse strahlen fünf Lichtkanonen mit je 4000 Watt auf den Angeberplatz vor dem Haus.

Irgendwann in der Nacht, ich bin eingeschlummert, träume ich, die Glastüren würden nun verriegelt und das neue Haus würde für ein Jahr, das ganze Schillerjahr hindurch, zum Schillercontainer, mit den schönen Schauspielern oben in der Lounge und dem gemeinen Schillervolk unten in den Massenschlafsälen auf den 200 Feldbetten, die gegen fünf Uhr morgens tatsächlich aufgeschlagen werden. Ich träume von Big Schiller, ein Jahr live auf dem Theaterkanal, aber als ich aufwache, liege ich zum Glück, ich weiß nicht mehr, wie ich der Schillerhölle entkommen konnte, nicht mehr auf einem der Schillerfeldbetten, sondern in meinem eigenen. Zuhause. Ach, gerettet. Nie wieder Schiller.

David Wagner wurde 1971 geboren, 1999 bekam er für die Erzählung "Die Entwicklerwanne" den Walter-Serner-Preis. 2000 veröffentlichte er seinen Debütroman "Meine nachtblaue Hose". 2002 folgte der Erzählband "Was alles fehlt"; er lebt in Berlin.

© SZ vom 7.3.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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