In diesen Gedichten geht es ohne Schonfrist zur Sache. "wie axthieb wie hindurch wie brustbein / wie kalter nasser schmerz wie heillos / wie erwachen wie ohne wie mit wie naht / der nacht", so beginnt das erste Gedicht, der Titel lautet: "chirurg". Und so atemlos, wie Paul-Henri Campbell seinen Band "nach den narkosen" anfangen lässt, geht es weiter. Die Dringlichkeit ist aus fast all diesen Gedichten herauszulesen, auch wenn sie formal noch so unterschiedlich sind. Hier werden einschneidende Erlebnisse verarbeitet, unter Titeln wie "postoperative nacht" oder "röntgenbild".
Natürlich hat das einen biografischen Hintergrund. Der 1982 in Boston, Massachusetts, geborene Campbell zog als Jugendlicher nach Bayern; der Autor und Übersetzer hat bereits mehrere Gedichtbände veröffentlicht. Noch nie hatte er jedoch darüber geschrieben, was ihn am unmittelbarsten beschäftigt: Seit seiner Geburt hat er einen schweren Herzfehler, mit nur 24 Jahren erhielt er einen Herzschrittmacher. Nun führt ein beherrschendes Lebens-, ja Überlebensthema nicht zwangsläufig zu großer Kunst. Campbell jedoch sind sehr beeindruckende, soghafte Texte gelungen, mit oft starker Bildlichkeit, selten nur pathetisch.
So sorgfältig durchgearbeitet die Gedichte sind, sie wirken in ihrer Darstellung des Schmerzes doch unverstellt direkt. Das gilt auch für das Nachwort; eher ist es ein Essay, in dem Campbell über Krankheit nachdenkt. Ausgehend von Judith Butlers Begriff "Heteronormativität" schlägt er einen neuen Begriff vor: "Salutonormativität". Der soll besagen, dass unsere Denk- und Verhaltensweisen, ja selbst die Sprache von einer Norm der Gesunden ausgehen. "Kranke stehen naturgemäß quer zu diesen gesunden Paradigmen", schreibt Campbell. Auch unsere "gesunde Sprache" sei dominiert von einer unverschämten Vitalität: "Die Sprache aber, die ich meine, kommt aus der Insuffizienz."
Was Campbell unter anderem zu der Frage führt: Ist es wichtig zu wissen, ob ein Gedicht von einem gesunden oder chronisch kranken Menschen verfasst worden ist? Man kann nun leichthin sagen: natürlich nicht. Man muss auch dem Entwurf einer "Salutopoesie" nicht zwingend folgen. Doch interessant sind die Perspektivverschiebungen allemal. Was Paul-Henri Campbell meint, ist "Rebellion ohne Anklage - ein trotziges Lamento". Es ist ein "Aufstand gegen das Unabänderliche". Hier ist einer aus allen Narkosen aufgewacht - und kämpft.
Paul-Henri Campbell: Nach den Narkosen . Wunderhorn 2017, 96 Seiten, 18,80 Euro