Wie das funktioniert, führen nun seine im Louvre heimische "Felsgrottenmadonna" und der im Vatikan lebende "Hieronymus" im Dialog vor. Dazwischen zieht "Belle Ferronnière" alle Blicke auf sich und betrachtet ihrerseits hinter ihrer gemalten Steinbrüstung die sich vor dem Rahmen drängelnden Bewunderer. Vielleicht aber interessiert sie sich für "Cecilia Gallerani" doch noch mehr als für uns - als Infrarotbilder hängen die beiden in gleicher Größe nebeneinander und scheinen zu plaudern, wie es die beiden Frauen womöglich schon am Mailänder Hof Ludovico Sforzas taten.
Die Blickbeziehungen in der Schau sind stupend, kongenial zu Leonardos Fähigkeit, Figuren immer neu miteinander agieren zu lassen sowie sie im steten Wandel auseinander heraus zu entwickeln. Vor allem die präzise ausgewählten Zeichnungen zeigen, wie er vorging. Auf einer Federskizze wird ein Greis zum Kleinkind, ein Mädchen- zum Männerkopf. Anderswo deutet eine junge Frau auf ein Einhorn, das wiederum mit seiner Hornspitze auf sie zeigt. Und immer wieder wendet sich Maria liebevoll ihrem Kind zu, wäscht ihm die Füße, offeriert ihm Früchte, beobachtet seine Tollerei mit einer widerborstigen Katze. Leben heißt kommunizieren, in Bewegung bleiben und im Gespräch.
Diese Unterhaltung kann zwischen Geschichte und Gegenwart stattfinden, so wie Leonardos Bildidee der Eier legenden Leda, die sich, wie der Louvre an zwei Marmorstatuen zeigt, auf antike Venusdarstellungen bezieht. Vor allem aber unterhalten Leonardos Geschöpfe sich miteinander und mit ihren Betrachtern, und sie tun dies nicht, um andere zu belehren oder sich anhimmeln zu lassen, sondern, so scheint es, aus echtem Interesse.
Viele Besucher greifen zum Handy - dabei ist die Intensität so gar nicht zu fassen
Wer sich einlässt auf diese Schwingungen, wird im letzten Raum Glück empfinden. In der Mitte strahlt "Anna selbdritt", jenes große, kürzlich gereinigte Gemälde, an dem Leonardo über Jahre malte. Wieder beschäftigt sich Maria mit ihrem ungestümen Sohn, der seinem Spielkameraden, dem Lamm, beinahe das Genick bricht. Eng ist auch ihre Beziehung zu ihrer eigenen Mutter, auf deren Schoß sie sitzt. Anna, noch jung, ist die große Weise; hinter ihrem Kopf erstreckt sich eine himmelblaue Weltenlandschaft. Ihre Überlegenheit aber spielt die Großmutter auf dem Gemälde nicht aus, im Gegensatz zu ihrer Position im Londoner "Burlington Karton": Hier reckt Anna den Zeigefinger gen Himmel.
Das wiederum korrespondiert mit dem dritten Gemälde im Raum, dem Bildnis des Johannes. Auch er streckt den Finger nach oben. Doch das ist nur auf den ersten Blick eine mahnende Geste. Johannes will mehr, er will sein Gegenüber mit Haut und Haar verführen. Und wie könnte ihm das nicht gelingen, mit diesem tiefen, wachen Blick, den weichen Locken, der im dunklen Raum leuchtenden Schulter. Heilig mag seine Mission sein, sein Wesen ist von dieser Welt. Der Pelz, den er sachte an sein Herz drückt, kann jeden Moment fallen.
Viele der Besucher, die in der Schau vor den Johannes treten, greifen unwillkürlich zum Fotohandy - als ahnten sie, dass dieser Blick, dieser Mann sie nicht mehr loslässt, wenn sie sich ihm ungefiltert aussetzen. Dabei ist der dunkle sfumato des Bildes kaum zu fotografieren; die Intensität des Spätwerkes vermittelt sich nur dem, der vor ihm steht. Das war zuallererst Leonardo selbst. Der Maler behielt den "Johannes" neben der "Mona Lisa" und "Anna selbdritt" bis zu seinem Tod bei sich. Vielleicht sprach er mit den Figuren, so wie er sich das von den Betrachtern seiner Werke wünschte. Dafür eröffnet die Pariser Ausstellung nun neue Denk- und Spielräume.
Leonardo da Vinci. Louvre, Paris. Bis 24. Februar. Der Katalog (Hazan) kostet 35 Euro.