Pop:Die Rückkehr des dunklen Giganten

Leonard Cohen

Wie ein arktischer Leuchtturmwächter, der beim Psalmen- vortrag leise sein muss, um die Eisbären nicht zu wecken: Leonard Cohen.

(Foto: Yann Orhan)
  • Neun hinterlassenen Songs sind auf dem nun erschienenen, posthum veröffentlichen Leonard-Cohen-Album, für das sein Sohn Adam die Musik produzierte.
  • "Thanks for the Dance" ist so derart gut geworden und enthält am Ende so viele große, nun wirklich allerletzte Worte, dass man sie unbedingt hören muss.

Von Joachim Hentschel

Wenn man mal kurz den Humanismus irgendwo aufs Couchtischchen legt und die Welt einfach nur als Bühne sieht, als Dokudrama mit farbechten Effekten, als Ort für all die großen Erzählungen, von denen Künstler, Marketingtypen und Spin-Doktoren heute tagelang faseln - dann muss man sagen: Der Abschied des Leonard Cohen war perfekt, absolut perfekt.

Es war Ende Oktober 2016, als er ein neues Album herausbrachte. Cohen, der wuschlig dunkle Gigant, der Sehnsuchtbeauftragte, der murmelsingende Großdichter, der Schweinkram und Todesfuge immer mit so äußerst delikater Hand zusammenbrachte, der in den Sechzigern so lange der Mann im Rollkragenpulli war und dann plötzlich zum Mann mit dem Hut wurde: Er war 82, die Platte hieß "You Want It Darker", seine vierzehnte. Sie war großartig und, nun ja, sehr dunkel. Sie erzählte von letzten Erledigungen und Ahnungen, wie ein Vorausgruß an den Schöpfer, eine Einkaufsliste für die Ewigkeit. "Ich verlasse den Tisch, mein Spiel ist vorbei", raunte er in einem Stück, und dem New Yorker sagte er im dazu passenden Interview: "Ich bin bereit zu sterben. Ich hoffe, es wird nicht so unangenehm." Cohen war immer schon ein jenseitiger Typ, aber das klang echt geisterhaft.

"Thanks for the Dance" ist eine Platte, wie man sie sich lang von ihm gewünscht hatte

Gut zwei Wochen nach Veröffentlichung, am 7. November, starb Leonard Cohen dann tatsächlich, an den Folgen seiner Alterskrankheiten. Und wenn man jetzt hört, mehr als drei Jahre später, dass die Nachfahren und die Plattenfirma doch noch eine weitere Cohen-Platte herausbringen, kurz vor Weihnachten, mit übrig gebliebener Musik, nachträglich fertiggestöpselt und zusammengefieselt - dann will man ernsthaft Klage führen: Macht das nicht alles kaputt? Stört das nicht die seltsame Ordnung, die Logik der Poesie, die am tragischen Ende trotz allem herrschte? Muss diese Platte sein?

Schnelle Antwort: Natürlich muss gar nichts sein, aber "Thanks for the Dance" ist so derart gut geworden und enthält am Ende so viele große, nun wirklich allerletzte Worte, dass man sie unbedingt hören muss. Auf ganz merkwürdige Art macht es sogar tieferen Sinn, dass es sie gibt.

Cohen selbst hätte solche Überlegungen lustig gefunden, er war sein Leben lang Mystiker und Zyniker zugleich, die zwei schönen Wörter mit Y. Für jedes schwarze Loch, in dem er seinen Zuhörern aus der Kabbala, der jüdischen Festtagsliturgie oder dem Kamasutra las, gab es mindestens ein Schunkel-, Spott- oder Sauflied, was an sich ja nicht allzu überraschend ist. Betonen muss man es trotzdem, mit Rücksicht aufs öffentliche Bild des Künstlers, der oft genug auf sein populärspirituelles, von Straßensängern, Brautgeschwistern und TV-Kandidaten bis zur Unkenntlichkeit zerknödeltes Lied "Hallelujah" von 1984 reduziert wird. Man könnte fast glauben, Cohen habe es den Leuten absichtlich hingeworfen, um am anderen Tischende möglichst ungestört weiter frühstücken zu können.

Cohen hatte die halben Neunziger als Zen-Mönch auf einem Berg bei Los Angeles gelebt. War dann zur Wende zwischen Nuller- und Zehnerjahren auf eine Welttournee gegangen, die so lange und ausufernd geriet, dass es schon rein rechnerisch kaum möglich ist, dass irgendwer ihn damals verpasst hat. Warum? Er war alt und brauchte das Geld. Die Managerin hatte ein paar Millionen verschwinden lassen, als er zu viel meditierte und zu wenig aufpasste. All das schöne Geld aus den erfolgreichen Jahren, der Rollkragenperiode, in der man bei "tea and oranges that come all the way from China" noch nicht ans US-Außenhandelsdefizit und den CO₂-Footprint von Obst dachte. Aus der Zeit, in der Cohen manchmal die Leute aus der ersten Reihe zum Bühnenrand-Kuscheln einlud und während der Show im Berliner Sportpalast 1972 auf Deutsch fragte: "Wollt ihr den totalen Krieg?" Nur zum Spaß natürlich. Als im Jahr drauf der Jom-Kippur-Konflikt ausbrach, flog er nach Sinai und sang für die israelische Truppe.

Die New Yorker Sängerin Suzanne Vega, die in Konzertansagen ab und zu von ihrem Dasein als Cohen-Fan erzählt, hat dabei auf ein spezifisches Dilemma hingewiesen: Man habe früher immer abwiegeln und relativieren müssen, wenn man über die Leidenschaft sprach: "Ich mag Cohen, aber nur in bestimmten Stimmungen." Wer uneingeschränkt Ja sagte, habe sich damit selbst zum psychiatrisch bedenklichen Fall erklärt. Zumindest die Gefahr besteht heute nicht mehr, seit der Diskurs über Depressionen offener geworden ist und selbst die Fußgängerzonen-Popkultur 50 differenzierte Schattierungen von Dunkelheit kennt.

Ein komplett schwarzes Plattencover sticht hier trotzdem noch heraus, und das hat "Thanks for the Dance", das neue, posthume Album. Auf der Vorgängerplatte hatte Cohen noch rauchend aus einem hellen Fenster in der Dunkelheit gegrüßt, wie am Ende eines alten Films. Jetzt ist die Klappe zu. Und was hören wir?

Bei den schönsten Lügen hört man förmlich sein Spottlächeln

Die vertraute Stimme, sie ist gleich wieder da. Weil sowieso alle zünftig beknackten Metaphern verbraucht sind, mit denen Cohens Gesang je beschrieben wurde, setzen wir noch eine einzige drauf: Wie ein arktischer Leuchtturmwächter, der beim Psalmenvortrag leise sein muss, um die Eisbären nicht zu wecken, fabuliert er im ersten Stück "Happens to the Heart" ausführlich über ein mühseliges, heiliges, erotisches Leben. Der Song ist eine tolle poetische Beichtstuhlszene, bei den schönsten Lügen hört man förmlich sein Spottlächeln: "In the prison of the gifted, I was friendly with the guards." Cohens Sohn Adam, der die Musik für die neun hinterlassenen Songs produzierte, hat nur Piano, spanische Gitarre und ein bisschen Orchester ergänzt, dezent, aber ohne schmierige Ehrfurcht. Anders gesagt: Schon der erste Song dieses Posthum-Produkts ist fast ein Klassiker.

Und es geht so weiter. Wie immer bei Cohen ist natürlich nicht alles stilsicher, es gibt ein paar Schwülstigkeiten und Schwerenötereien, außerdem ein vertontes Gedicht namens "Puppets", das mit der Zeile "German puppets burned the Jews" tonnenschwer startet, dann aber schnell in eher gymnasiastenhafte Vanitas-Lyrik mündet. Aber das sind Ausnahmen. Alles in allem ist "Thanks for the Dance" eine so wundervolle, gewitzte, existenziell düstere und heitere Platte, wie man sie sich zwischendurch jahrelang dringend von ihm gewünscht hatte. Und ja, obwohl es Quark ist und auch bestimmt nicht so konzipiert war: Man glaubt in der Tat, hier die bestens temperierte Zugabe eines Mannes zu hören, der den lästigen Stress mit dem Sterben nun endlich hinter sich hat und entspannt fragt, wo er noch mal stehen geblieben sei.

Das war ja immer das Besondere an ihm und seinen Liedern: Während es bei den anderen sprichwörtlichen Songwritern meist um den Wandel und das rücksichtslose Rollen der Ereignisse ging, um Naturgewalten und den Geist des Rock 'n' Roll, war Leonard Cohen der Chronist der Stillstände. Der unzuverlässige Beobachter, der kaputte Prophet, der an Bettkanten und in leeren Gebetshäusern dabei zusah, wie die Dinge vor seinen Augen langsam zum Erliegen kamen. Und der die Kraft der Poesie benutzte, wie ein Seelsorger, um genau das zu erklären und zu deuten. Der Tod durchkreuzt seine Kunst kein bisschen. Das Nichts war bei Leonard Cohen immer schon im Bilde.

"Listen to the hummingbird", schmirgelt er im letzten Lied dieser wahrscheinlich nun wirklich letzten Platte, "don't listen to me!" Okay, machen wir trotzdem. Wir legen uns auf den Orientteppich, zünden die Sandelholzstäbchen an, machen "Thanks for the Dance" ganz laut. Cohen, der zärtliche alte Sturkopf, ist endlich zu Hause, und zwar bei uns.

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