Lektionen der Geschichte:Von Warschau lernen

Lokaltermin am einstigen Ort des Grauens: 70 Jahre nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs tagen polnische und deutsche Historiker in Warschau.

Paul Katzenberger

Es ist paradox: Mit dem "Sächsischen Palais" wünschen sich viele Warschauer ausgerechnet ein verschwundenes Relikt der Deutschen in ihr Stadtbild zurück. Dabei war es der Nachbar aus dem Westen, der dem früheren "Paris des Ostens" die Schönheit raubte: Wohl keine andere Stadt litt so sehr unter der ideologischen Zerstörungswut der Nazis wie die polnische Hauptstadt. Was Wehrmacht und SS nicht schon in den fünf traumatischen Jahren seit Kriegsausbruch zerstört hatten, machten sie im Spätsommer 1944 platt - 90 Prozent der Stadt gab es danach nicht mehr.

Lektionen der Geschichte: Späte Ehrung: Der Grundstein für das Denkmal des Warschauer Aufstandes wurde erst 40 Jahre nach seinem Ausbruch gelegt.

Späte Ehrung: Der Grundstein für das Denkmal des Warschauer Aufstandes wurde erst 40 Jahre nach seinem Ausbruch gelegt.

(Foto: pak)

Dabei nahmen die Deutschen Warschau auch eine der bedeutendsten Kostbarkeiten, die sie ihr einst selbst gegeben hatten - eben das "Sächsische Palais". Von August dem Starken wesentlich erweitert, hatte dieses Schloss die Prachtmeile "Krakauer Vorstadt" (Krakowskie Przedmiescie) seit 1713 dominiert, doch kulturelle Kristallisationspunkte hatten aus Sicht der Nazis keinen Platz mehr in dieser Stadt.

Auf den Spuren erinnerungswürdiger Orte

Mittlerweile gibt es in Warschau eine Diskussion darüber, ob es diesen Ort wieder geben sollte - die Geschichte schließt sich mit der Gegenwart kurz. Wegen dieses zeitgeschichtlichen Bezugs passte das Thema gut zur diesjährigen Sommerakademie der Zeit- und Gerda-Henkel-Stiftungen, die unter wissenschaftlicher Leitung der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) zwei Septemberwochen lang in Warschau stattfand.

Das Motto der Sommerakademie lautete "History taking place", und erinnerungswürdige Orte gibt es in Warschau zuhauf. So tagten die Wissenschaftler unter freiem Himmel (etwa auf der Brache des früheren Sächsischen Palais) oder in denkmalgeschützten Gemäuern (etwa dem Kultur- und Wissenschaftspalast).

Bloße Fassaden

Ob das "Sächsische Palais" wieder aufgebaut werden soll, war eine der relevanten Fragen, denen sich diese Sommerakademie stellte, und es war erfreulich, dass sie zu ihrer Beantwortung die wohl kompetentesten Gesprächspartner für diese Problematik hinzuziehen konnte.

Nach einem Überblicksvortrag des Historikers Pawel Gorszczynski von der Universität Leipzig präsentierte sich dabei der Warschauer Stadthistoriker Daniel Artymowski als eher puristischer Denkmalschützer, der bei einem Wiederaufbau bloße Fassaden ohne Authentizität fürchtet.

Offener in dieser Frage zeigte sich hingegen der Architekt Andrzej Tomaszewski, dessen Haltung stark vom einzigartigen Wiederaufbau der Warschauer Altstadt geprägt ist. Diese, so Tomaszewski, sei zwar unter strengen denkmalschützerischen Gesichtspunkten auch in vielen Punkten Staffage, doch immerhin sei sie von den Menschen als Stadtzentrum Warschaus angenommen worden, der Erfolg gebe ihr mithin Recht.

Sympathiepunkte für auf alt gemachte Häuser

In einem multimedial anspruchsvollen Vortrag thematisierte Felix Münch von der Universität Gießen in einem der wiederaufgebauten Gebäude direkt am "Marktplatz der Altstadt" (Rynek Starego Miasta) den "Mythos vom Wiederaufbau Warschaus", der als weltgrößte Wiedererrichtung einer ursprünglichen Bebauung gilt.

Der Politikwissenschaftler verdeutlichte dabei, dass die totale Zerstörung der Stadt den seit 1945 regierenden Kommunisten die Chance bot, sich zu profilieren: Einerseits gab es für die originalgetreu anmutende Wiederherstellung der Altstadt Sympathiepunkte, andererseits sollte sich die Leistungsfähigkeit des Sozialismus in aufwendigen "Wohnpalästen für die Werktätigen" spiegeln.

Beide Projekte konnten den riesigen Bedarf aber nicht decken, ab 1954 begann in Warschau schließlich der Plattenbau zu dominieren, zum "Paris des Ostens" wurde die Stadt nicht mehr.

Lesen Sie auf der zweiten Seite, wie umstritten der Warschauer Aufstand immer noch ist.

"Fatale Fehleinschätzung"

Besonders viele Plattenbauten stehen in Warschau heute auf jenen Flächen, in denen das Ausmaß der Kriegszerstörungen besonders groß war. Auf dem Gebiet des früheren Warschauer Ghettos etwa, in das die Nazis nur wenige Schritte von der Altstadt entfernt ab 1940 auf einer Fläche von drei Quadratkilometern 500.000 Juden gepfercht hatten, stehen kaum noch Originalhäuser - die grausamen Okkupanten hatten nach der Unterwerfung des Ghettoaufstands 1943 und der weitgehenden Ermordung der Ghettobewohner deren Häuser gründlich zerstört.

Lektionen der Geschichte: Signum des Schreckens: An dieser Stelle in der Elektoralna-Straße verlief von 1940 bis 1943 die Mauer des Warschauer Ghettos.

Signum des Schreckens: An dieser Stelle in der Elektoralna-Straße verlief von 1940 bis 1943 die Mauer des Warschauer Ghettos.

(Foto: pak)

Dieses besonders dunkle Kapitel der deutschen Geschichte thematisierte der Geschichts- und Musikwissenschaftler Giles Wesley Bennett von der Ludwig-Maximilians-Universität München, der das Ghetto mehr aus Sicht der Besatzer als aus dem Blickwinkel der Opfer darstellte.

Diese Perspektive illustrierte die Perversion des Ghettos besonders stark. Dass sich die Deutschen etwa des Judenrats unter Adam Czerniaków bedienten, um ihr barbarisches Werk umzusetzen, bringt den Zynismus des Nazi-Systems nachdrücklich auf den Punkt: "Die Deutschen konnten sich immer auf die Position zurückziehen, dass Diskriminierungen wie das Tragen des Judensterns oder Beschlagnahmungen vom Judenrat unterschrieben worden waren", so Bennett.

Riskante Entscheidung

Zum Handwerkszeug der Nazis machten sich auch einige polnische Kollaborateure, wie der Fotograf Zygmunt Walkowski während einer ausgedehnten Stadtführung zur Thematik "Warschau im Zweiten Weltkrieg" erläuterte. Doch im kollektiven Gedächtnis des Landes blieb der Widerstand im Untergrund durch die polnische Heimatarmee "Armia Krajowa" (AK) bei weitem stärker haften.

Die damalige Auflehnung der AK gegen die Besatzer gibt Polen heute die Würde, sich nicht widerstandslos ergeben zu haben. Ob aber auch der militärisch von der AK organisierte Warschauer Aufstand gegen die Deutschen im August 1944 richtig war, darüber wird in Polen nach wie vor gestritten.

Der wissenschaftliche Leiter der Sommerakademie, Werner Benecke, äußerte sich zu dieser Fragestellung allerdings eindeutig: "Der Warschauer Aufstand war eine hochrisikoreiche Entscheidung. Zwar war die schiere Zahl der potenziellen Kämpfer mit 43.000 gar nicht so niedrig, doch die Bewaffnung war erbärmlich und die Munitionsbestände extrem niedrig."

Ein hoher Preis

Das Kalkül der Aufständischen, dass die anrückende Rote Armee die Erhebung unterstützen werde, sei außerdem eine fatale Fehleinschätzung gewesen: "Ein direktes Eingreifen in einen hoch verlustreichen Straßenkampf war von der Roten Armee nicht zu erwarten." Der Preis der Niederwerfung des Aufstands durch die anschließende - nahezu vollständige Zerstörung Warschaus - sei außerdem absehbar und sehr hoch gewesen, so Benecke.

Ob der Warschauer Aufstand berechtigt war, oder nicht, wird sich aus heutiger Sicht nicht mehr klären lassen - es ist eine Frage der Bewertung: scheinbar sinnlose Verluste gegen die Würde einer Nation.

Der Umgang mit dem Gedenken an den Aufstand wirft aber auch ein Licht auf das kommunistische Polen in der Zeit von 1945 bis 1989. Denn wie die Erinnerungshistoriker Florian Peters von der Berliner Humboldt Universität und Agata Sadowska von der Universität Konstanz am Denkmal für den Warschauer Aufstand (Pomnik Powstania Warszawskiego) erläuterten, war die Errichtung dieses Monumentes keineswegs unumstritten im sozialistisch regierten Polen.

Doch noch eingeweiht

Die kommunistischen Machthaber hätten die Heldentat lieber unter den Teppich gekehrt - das Gedenken an die Befreiung von den Nazis sollte allein der Roten Armee vorbehalten bleiben. Vergessen war das Monument deswegen nicht - kurz vor dem Fall des "Eisernen Vorhangs" wurde das Denkmal im Jahr 1989 doch noch eingeweiht.

Die Ehrung für die 150.000 bis 200.000 zivilen und militärischen Opfer der Erhebung kam also spät. Bis das Museum des Warschauer Aufstandes im Jahr 2004 eröffnete, sollten allerdings weitere 15 Jahre vergehen.

Der polnische Germanist und Philosoph Karol Sauerland kritisierte dieses späte Gedenken während seines Vortrages bei der Sommerakademie. Die wahrhaftige Aufarbeitung der eigenen polnischen Geschichte stehe auch mit den schuldbehafteten und schmerzhaften Seiten erst am Anfang - eine großzügige Haltung in einer geschundenen - und doch wieder pulsierenden - Stadt.

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