"Leitfaden für britische Soldaten":Hitlers Roboterrasse

Britisches Militär sichert Demontagearbeiten, 1949

"Eine britische Besatzung wird nicht von Brutalität, aber auch nicht von Nachgiebigkeit geprägt sein." Die Aufnahme zeigt eine britische Panzertruppe 1949 in einem Industriewerk im Ruhrgebiet.

(Foto: AP)

Der Deutsche ist brutal, wenn er siegt. Selbstmitleidig, wenn er geschlagen ist. In einer Gebrauchsanweisung für britische Soldaten für Deutschland kurz vor dem Fall des Nazi-Regimes geht es unmissverständlich zu. Nun steht das Buch auf den Bestsellerlisten. Aber kann man es heute überhaupt richtig lesen?

Von Jens-Christian Rabe

Auf dem ersten Platz der Sachbuch-Bestsellerliste steht derzeit "Gelassenheit", das jüngste Buch des Berliner Philosophen Wilhelm Schmid. Das ist keine echte Überraschung. Schmidt ist als Lebenskunst-Experte und Bestsellerautor seit Jahren etabliert. Und wem wäre angesichts der Lage der Welt nicht nach ein paar guten Ratschlägen, wie man trotz allem Gelassenheit bewahrt.

Nicht weit entfernt von der Spitze, auf dem siebten Platz, steht allerdings mittlerweile ein Buch - und das ist dann doch mal eine Überraschung -, das nicht allzu viel Anlass zu Gelassenheit bietet. Im Gegenteil. Der kleine rote Hardcover-Band "Leitfaden für britische Soldaten in Deutschland 1944" dokumentiert - in der englischen Originalversion und in deutscher Übersetzung - die gesammelten Hinweise des Londoner Außenministeriums für die britischen Besatzungstruppen. Noch herrschte Krieg, aber der Zusammenbruch von Hitlers Nazi-Deutschland war schon abzusehen.

Der Herausgeber und Chef des Kiepenheuer-Verlages Helge Malchow hat die englische Originalausgabe des Büchleins angeblich während eines Besuchs bei seinem Star-Autor Christian Kracht in Italien zufällig entdeckt. In seinem schönen Vorwort, in dem man vielleicht nur noch etwas mehr über den genauen Entstehungsprozess des Leitfadens und die Autoren erfahren hätte, weist er darauf hin, was für eine "unglaubliche demokratische Zivilisiertheit", was für ein "demokratisches Selbstbewusstsein" und was für eine "selbstverständliche Humanität" aus den Zeilen spreche.

Britische Besatzung nicht von Brutalität geprägt

Über all das staunt man tatsächlich bei der Lektüre von Sätzen wie "Eine britische Besatzung wird nicht von Brutalität (. . .) geprägt sein" oder "Bleiben Sie anständig und gerecht". Deutlicher scheint der Akzent dennoch darauf zu liegen, die Truppen gegen allzu viel Mitleid im Angesicht eines zerstörten Landes und einer hungernden Bevölkerung zu imprägnieren. Vollständig lauten die beiden genannten Sätze nämlich so: "Eine britische Besatzung wird nicht von Brutalität, aber auch nicht von Nachgiebigkeit geprägt sein" und "Bleiben Sie anständig und gerecht, aber werden Sie nicht weich."

Die Soldaten sollten also auf keinen Fall sentimental werden, sondern auf der Hut sein: "Wenn die Zeiten für die Deutschen hart sind, sind sie selbst dafür verantwortlich. Den unschuldigen Menschen der Länder, die sie besetzt hatten, haben Sie es noch viel schwerer gemacht."

In bekannten Militär-Handbüchern der Gegenwart wie etwa dem "Wegweiser zur Geschichte - Afghanistan" zur "Einsatzunterstützung" der Bundeswehr oder dem Handbuch "Small-Unit Operations in Afghanistan" der amerikanischen Armee dominiert ein betont nüchterner, peinlich um weltanschauliche und politische Neutralität bemühter umständlich-schmuckloser, oft sehr indirekter wissenschaftlicher Ton. Hier nicht.

"Die Deutschen haben ihre Gefühle nicht gut im Griff"

In diesem alten Leitfaden gibt es keine Umschweife, es geht präzise, knapp, unmissverständlich zu. Ein mächtiger, vermeintlich sogar übermächtiger Aggressor, der den totalen Krieg anzettelte, ist fast in die Knie gezwungen. Es muss - anders als bei den asymmetrischen Präventiv-Interventionen unserer Tage - nur noch sehr wenig Rücksicht genommen werden:

"Sie werden viel Elend zu Gesicht bekommen. Manchmal werden Ihnen Geschichten über Schicksalsschläge zu Ohren kommen. Manche mögen zumindest teilweise wahr sein, aber bei den meisten dürfte es sich um heuchlerische Versuche handeln, Mitleid zu erregen. Alles in allem ist der Deutsche nämlich brutal, solange er siegreich bleibt, wird aber selbstmitleidig und bettelt um Mitleid, wenn er geschlagen ist." Erst als sie "den eisigen Wind der Niederlage" spürten, hätten die Deutschen ihr Gewissen entdeckt.

Eine besondere Mischung aus Sentimentalität und Gefühlskälte zeichne die Deutschen aus, die nicht von einem ausgewogenen Selbstbewusstsein zeuge: "Die Deutschen haben ihre Gefühle nicht gut im Griff. Sie weisen einen hysterischen Charakterzug auf. Sie werden feststellen, dass Deutsche häufig bereits in Wut geraten, wenn auch nur die kleinste Kleinigkeit danebengeht."

Das Schlimmste aber sei vielleicht, so der Leitfaden, "dass an den Schulen und in der Hitlerjugend den deutschen Kindern eingebläut wurde, dass Macht vor Recht geht, Krieg die edelste Form menschlichen Tuns und das Christentum nichts als schmalziger Kitsch ist. Indem man die Köpfe der Kinder mit Naziideen vollstopfte und andere Ideen von ihnen fernhielt, hoffte Hitler, eine Roboterrasse ganz nach seinem Herzen heranzüchten zu können. Derzeit können wir noch nicht beurteilen, inwieweit dieser unmenschliche Plan erfolgreich war."

Die Mettwurst und die Leberwurst

Deutlich weniger bedrückend sind da die Abschnitte zur deutschen Küche und zum Sport. Bei letzterem zeigten die Deutschen gute Leistungen, die meisten Sportarten aber hätten sie "von uns" gelernt. Hervorragende Wurstsorten seien die Mettwurst und die Leberwurst.

An Stellen wie diesen ist die Lektüre oft ziemlich komisch. Es kann sehr unterhaltsam sein, uralte Klischees und grobe Verallgemeinerungen so umstandslos objektiviert zu sehen, Völkerpsychologie ist aus einigen guten Gründen etwas aus der Mode. Und dann hat man irgendwann doch die Frage im Kopf, wie man dieses Buch als viel später geborener Deutscher eigentlich richtig liest, ob man es überhaupt richtig lesen kann. Weil einem mit all den ernsten Hinweisen, die inzwischen Pointen sind, die Menschen, vor denen dort gewarnt wird, doch ferner erscheinen, als sie es einem ihrer Nachfahren wohl sein sollten.

Klischees sind schließlich natürlich nie die Wahrheit, aber doch immer zutreffend genug, um einem eine Ahnung davon zu geben, womit und mit wem man es ungefähr zu hat. Und darüber sollten wir uns ruhig weiter ein paar Gedanken machen. Historisch gesehen ist das alles ja leider gerade eben erst passiert. Anders gesagt: Dieses Buch ist ein wirklich wichtiges und es ist eine gute Nachricht, dass es in der Bestsellerliste so weit oben steht.

Leitfaden für britische Soldaten in Deutschland 1944. Deutsch/Englische-Ausgabe. Mit einer Einleitung von John Pinfold. Übers. v. Klaus Modick. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014. 160 Seiten, 8 Euro.

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