Leipziger Ersatz-Buchmesse:Die Literatur hat versagt

Leipziger Ersatz-Buchmesse: Leipzig bekam kurzfristig eine Ersatz-Buchmesse - und die kurzfristig ein alles beherrschendes Thema - die Suche nach einer angemessenen und gemeinsamen Sprache über diesen Krieg

Leipzig bekam kurzfristig eine Ersatz-Buchmesse - und die kurzfristig ein alles beherrschendes Thema - die Suche nach einer angemessenen und gemeinsamen Sprache über diesen Krieg

(Foto: Niklas Keller)

Auf der improvisierten Leipziger Buchmesse rangen Autoren um eine Sprache für den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine.

Von Felix Stephan

Auf dem Höhepunkt dieser an sich sehr liebevoll improvisierten Leipziger Ersatzmesse gab es eine verräterische Pause. Im größten Saal des Festivalgeländes fand gerade ein Podium mit Autoren aus der Ukraine, Russland, Belarus und dem noch immer erkennbar niedergeschlagenen Karl Schlögel statt, aus Lwiw war der ukrainische Übersetzer Juri Durkot zugeschaltet. Die westukrainische Stadt war bislang vor allem mit der Versorgung von Binnenflüchtlingen beschäftigt und kein direktes Ziel russischer Raketen. Das hatte sich gerade geändert. Nur acht Kilometer entfernt von der historischen Altstadt, die die Unesco als Weltkulturerbe führt, war tags zuvor eine Rakete eingeschlagen und hatte eine Fabrik zerstört. Die Stadt schütze ihre Denkmäler, so gut es eben gehe, sagte Durkot, aber es sei natürlich auch klar, dass Sandsäcke und Holzverkleidungen gegen Raketen nichts ausrichteten.

Am Ende der Schalte verabschiedete die Moderatorin Cornelia Zetzsche Juri Durkot mit der unschuldigen Formel "Auf bald, hoffentlich", doch an der Stelle, an der hier das Komma steht, stand im gesprochenen Wort eine Pause, die etwa eine Zehntelsekunde zu lang war, genau die Zeit, die es brauchte, im vollbesetzten Saal das Erschrecken darüber zu verankern, was dieses beiläufig hingefloskelte "hoffentlich" in diesem Fall bedeutete - dass dieser Abschied genauso gut ein finaler sein könnte. Aber zurücknehmen ließ es sich nun auch nicht mehr, und so saß man dann also da mit seinem Erschrecken und musste trotzdem weiterreden, denn dafür waren ja schließlich alle angereist.

Das war so etwas wie das Grundproblem dieser in wenigen Wochen zusammengeschusterten Buchmesse, die auf wirklich charmante Art so aussah, als sei sie aus einer Nachbarschaftsinitiative hervorgegangen oder insgesamt die Erste ihrer Art: Im Normalfall sind Buchmessen die zentralen Verteilungslager für Bücher und Sprache, in diesem besonderen Jahr aber gab es Bücher nur in begrenzter Zahl, und die Sprache erwies sich im Laufe des Wochenendes immer wieder als bedrückend unzulänglich.

Die Literatur habe Auschwitz nicht verhindert, nicht den Gulag, und jetzt auch nicht Mariupol

Karl Schlögel etwa wies jede Aufforderung, diesen Krieg historisch einzuordnen, in Leipzig konsequent zurück und äußerte nur die große, empirisch aber schlecht begründete Hoffnung, die deutsche Öffentlichkeit möge zu einer Sprache finden, die nicht im Duktus des Talk-Show-Zirkus ende. Das ist keine geringe Aufgabe, der bloße Anblick des massenhaften Sterbens verlangt nach einer neuen Sprache, zu der die Literatur erfahrungsgemäß stets erst Jahrzehnte später findet. Wieder habe eine große literarische Tradition die Barbarei nicht verhindern können, sagte der russische Schriftsteller Michail Schischkin: Die deutsche Literatur habe Auschwitz nicht verhindert, die russische nicht den Gulag, und jetzt auch nicht Mariupol.

In Wassili Grossmans Roman "Stalingrad" gibt es eine Szene, in der zwei Russen sich über diese Frage am Beispiel der mordenden und brandschatzenden deutschen Faschisten den Kopf zerbrechen. In Leipzig wurde diese Frage nun immer wieder an Russlands "postmodernen Faschismus" (Schlögel) zurückgegeben. Bei Grossmann einigten sich die Figuren darauf, dass es mit Nietzsche zu tun haben müsse, in Leipzig wurde die leider nicht ganz von der Hand zu weisende Anmerkung heftig beklatscht, dass der Putinismus ohne die Unterstützung und das Appeasement des Westens nicht möglich gewesen wäre.

Nach dem Vorbild Willy Brandts hätte es nach 1989 eine ganze Reihe von Kniefällen geben müssen

Bis eine adäquate Sprache gefunden ist, bannt man die eigene Hilflosigkeit mit Formeln: Michail Schischkin sagte, dieser Krieg werde im Namen des russischen Volkes geführt, also auch in seinem, und er könne die Ukrainer nur um Vergebung bitten für etwas, das nicht zu vergeben sei. Die Entstalinisierung sei in Russland einfach ausgefallen, ein Äquivalent zu den Nürnberger Prozessen habe es nie gegeben, und das Ergebnis dieser Aussparung sehe man jetzt.

Nach dem Vorbild Willy Brandts hätte es nach 1989 gleich eine ganze Reihe von Kniefällen geben müssen: in Charkiw und Kiew, aber auch Prag und Budapest. Wer werde sich, fragte Schischkin niemanden im Besonderen, der Entputinisierung annehmen, wenn es dereinst so weit sei und es weder eine totale Niederlage noch siegreiche Alliierte gebe? Das russische Volk selbst?

Die in Mainz lebende ukrainische Autorin Marjana Gaponenko wiederholte in Leipzig die Position der ukrainischen Regierung, laut der Deutschland umgehend die Nordstream-1-Pipeline schließen und moderne Abwehrsysteme liefern müsse, mit denen man - auch so eine Formulierung, die neuerdings erstaunlich behände von der Zunge geht - "den Himmel schließen" könne.

Seit Jahren ist Belarus das Unterdrückungs- und Propagandalabor Russlands

Ob sie damit sagen wolle, dass Deutschland einen Atomkrieg riskieren solle, wollte die Moderatorin im geostrategischen Investigativton der Münchner Sicherheitskonferenz gerne wissen. Gaponenko: Sie habe nie geglaubt, dass sie das einmal sagen würde, aber sie sei keine Pazifistin mehr. Ihre Großmutter in Odessa berichte von 14 Kriegsschiffen, drohend aufgereiht am Horizont: "Mein Land brennt, und ich möchte, dass es aufhört."

Deutschland, das wurde sehr deutlich an diesem Abend, befindet sich gegenüber den Ukrainern in einer moralisch unhaltbaren Position, in die es sich über zwei Jahrzehnte selbst manövriert hat. Jetzt betrachten die Deutschen zumindest auf diesem Literaturfestival das Leiden anderer und wägen bang ihren Anteil. Und auf dieser Bühne saßen nun Autoren, die es tatsächlich schon immer besser gewusst haben, die sich davon jetzt aber auch nichts kaufen konnten. Wer, fragte Schischkin, höre schon auf Schriftsteller.

Ein "Aushungern Kiews nach dem Vorbild der Leningrader Blockade", ein zweites Mariupol "werden wir nicht überleben", sagte Karl Schlögel an einer Stelle. Die Frage, wen er mit diesem Kollektiv-Wir genau meinte, ließ er offen, wodurch sie etwas rätselhaft Prophetisches bekam. Keine Missverständnisse ließ er hingegen bei der Frage zu, in welcher Form die westlichen Demokratien in der Ukraine jetzt dringend intervenieren sollten: mit einer Luftbrücke nach Kiew, die eine Blockade dieser europäischen Metropole unmöglich mache.

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