Süddeutsche Zeitung

Leipziger Buchmesse:Liegt am Meer

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Das Gastland ist in diesem Jahr Tschechien. Sein Auftritt zeigt die traditionsreichen Beziehungen zwischen Leipzig und Prag, Berlin und Brünn mit einem Augenzwinkern: Obwohl es nicht am Meer liegt, erinnert der Stand des Landes an ein Schiff.

Von Lothar Müller

Wenn an diesem Donnerstag in Halle 4 der Leipziger Buchmesse der Stand des Gastlandes Tschechien eröffnet wird, kann man zusehen, wie eine der erfolgreichsten geografischen Fiktionen der Weltliteratur ihre Durchschlagskraft demonstriert. Keinen einzigen Seehafen hat die Republik Tschechien. Aber seit Shakespeares "Wintermärchen" liegt Böhmen am Meer. Und so hat das Gastland mit einem Augenzwinkern, das gut zu seinen literarischen Traditionen passt, für seinen Auftritt das Motto "Ahoj Leipzig!" gewählt, und sein von dem Architekten und Designer Martin Hrdina entworfener Stand erinnert an ein Schiff, das mit gesetzten Segeln und Kapitänsbrücke die Leinen losgemacht hat, um das Büchermeer zu durchstreifen.

Im Imaginären wird das Schiff nicht verschwinden. Es nimmt Kurs auf das Jahr 1989, auf den großen Umbruch in Mittel- und Osteuropa vor dreißig Jahren. Aus dem Garten der deutschen Botschaft in Prag ist die Skulptur "Trabi auf Beinen - Quo Vadis" von David Černý zu Gast. Sie soll an die zeithistorische Verbindung der Städte Leipzig und Prag erinnern, an die Montagsdemonstrationen hier, die Ausreise der Botschaftsflüchtlinge dort.

"1989" ist ein Leitmotiv des Tschechien-Auftritts, es könnte die Erinnerung an den Umbruch von der deutschen Binnenperspektive lösen, den Rückblick auf das Ende der DDR mit der Geschichte des Nachbarlandes nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 verbinden.

Zum Angebot des tschechischen Standes gehört eine kleine Ausstellung über Milan Kundera, der Anfang April neunzig Jahre alt wird. Er ging 1975 nach Paris ins Exil, ist seit gut zwei Jahrzehnten ein französischer Autor und zugleich immer eine Schlüsselfigur der tschechischen Literatur um 1968 geblieben. In seinen Erzählungen und Romanen lässt sich nachlesen, wie sich in der Tschechoslowakei von der Nachkriegszeit bis zum Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes und darüber hinaus die Lebenslust behauptete - und manchmal auch erlahmte.

Kundera ist mit seinen Manuskripten, Zeichnungen und Dokumenten zu seiner internationalen Rezeption nicht nur als Zeitzeuge des Prager Frühlings von Bedeutung. Er stammt aus Brünn und passt auch deshalb gut in das Leipziger Konzept. Der Auftritt des Gastlandes mag in seinem Design unter böhmischer Flagge segeln, aber Leipzig und Brünn sind Partnerstädte, und so führten die einmonatigen Residenzstipendien im Vorfeld tschechische Autoren nach Leipzig, deutsche Autoren nach Brünn, in die Hauptstadt Mährens. Brünn hatte wie Prag seine deutschsprachige Welt, Robert Musil studierte hier an der "Deutschen Technischen Hochschule" Maschinenbau.

Das Programm insgesamt ist darauf angelegt, die Wahrnehmung Tschechiens von der Fixierung auf Prag zu lösen. Es gibt Veranstaltungen über Dada im Sudetenland und die aktuellen Literaturbeziehungen zwischen Brünn und Berlin, und wenn am Freitag Jáchym Topol, Gáspár Miklós Tamás und Piotr Buras über die "Years of Change" zwischen 1989 und 1991 diskutieren, dann fällt der Blick auf Polen, Ungarn und Tschechien zugleich. Der Titel "Am Ende - Europa!" steht gegen die aktuellen Befürchtungen, Europa sei am Ende. Tschechien gehört zu den Ländern, in denen derzeit die Europaskepsis politisch stark ist.

Bei der Debatte darüber darf die Ökonomie nicht fehlen. In der Kunsthalle der Leipziger Sparkasse tritt am Samstag Tomáš Sedláčeka auf, Chefökonom der größten tschechischen Bank und Mitglied des nationalen Wirtschaftsrats in Prag. Sein Thema "Die Dämonen des Kapitals".

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SZ vom 21.03.2019
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