Leipziger Buchmesse:Konflikte, die nicht abwählbar sind

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Zur Eröffnung wurde die Zivilgesellschaft beschworen. Der Historiker Heinrich August Winkler erhielt den Buchpreis für Europäische Verständigung.

Von Lothar Müller

Die feierliche Eröffnung der Leipziger Buchmesse am Mittwochabend war in diesem Jahr nicht nur ein Festakt. Sie war eine Beschwörung. Das Gewandhausorchester spielte die Ouvertüre zu Mozarts "Zauberflöte", Verdi, Rossini und Puccini; der ältere Herr im hellen Anzug, der aufspringt und den Akteuren Blumen überreicht, waltete wie immer seines selbst gewählten Amtes; aber als Heinrich Riethmüller, Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, ans Rednerpult trat, war klar, welcher Geist an diesem Abend beschworen wurde: der Geist der Zivilgesellschaft. Riethmüller erwähnte das Urheberrecht und den Streit über die Ausschüttungen der Verwertungsgesellschaft Wort, aber die Bemerkungen zur Branchenpolitik klangen eher wie Pflichtübungen. Er sprach über die Verlags- und Literaturlandschaft als "Grundpfeiler der Demokratie" und Gegengewicht zu denen, "die plakativer Propaganda hinterherlaufen". Eine schwarze Pappe mit der Parole "Für das Wort und die Freiheit" lag auf jedem Sitz im Gewandhaus, Riethmüller bat das Publikum, sich zu erheben und dieses Plakat hochzuhalten, als "ein starkes Zeichen der Kultur- und Buchbranche".

Er war flankiert vom Leipziger Oberbürgermeister Burkhard Jung, der die Biografie der aus der Bukowina stammenden Dichterin Rose Ausländer gegen den grassierenden Rassismus und Fremdenhass setzte, und vom sächsischen Ministerpräsidenten Stanislaw Tillich: "Wer ein Buch in den Händen hält, kann keine Brandsätze auf Unterkünfte oder Steine in die Wohnung von Politikern werfen."

Den Appellen und Gesten der Politisierung entspricht das Programm der diesjährigen Messe. Sie hat kein Gastland, sondern den gemeinsam mit der Robert-Bosch-Stiftung ausgerichteten Schwerpunkt "Europa 21", als "Denk-Raum für die Gesellschaft von morgen" und Forum für Diskussionen über die aktuelle Flüchtlingskrise und Integrationskonzepte. Der Begriff "Zivilgesellschaft", der über der Eröffnung schwebte, hat in Leipzig einen besonderen Klang. Kaum ein Redner versäumt, an Leipzig 1989/90 zu erinnern, und zur programmatischen Tradition der Buchmesse gehört in den letzten 25 Jahren die starke Präsenz des mittel- und osteuropäischen Raums. Das zeigt sich zum einen an den Gastländern, zum anderen am Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung. Er ging 2015 an den rumänischen Autor Mircea Cărtărescu für seine von den Dämonen des Sozialismus und Postsozialismus geprägte "Orbitor"-Romantrilogie. 2014 hatte die Vergabe an den indischen Essayisten Pankaj Mishra für sein Buch "Aus den Ruinen des Empires. Die Revolte gegen den Westen und der Wiederaufstieg Asiens" die Öffnung zur Weltgesellschaft auf den ferneren Osten hin signalisiert.

Im Gewandhaus: Der Preisträger Heinrich August Winkler rechts neben Stanislaw Tillich (Mitte). (Foto: Hendrik Schmidt/dpa)

In diesem Jahr ist der Preis in den transatlantisch orientierten Westen zurückgekehrt. Der Historiker Heinrich August Winkler nahm ihn beim Festakt für seine vierbändige "Geschichte des Westens" entgegen, die den Westen vor allem als "Wertegemeinschaft" begreift, die auf den Forderungen der amerikanischen Revolution von 1776 und der Französischen von 1789 beruht. Der erste Satz im ersten Band lautet: "Am Anfang war ein Glaube: der Glaube an einen Gott", er führt in die Herkunftswelt vieler Flüchtlinge, in den Entstehungsraum der jüdischen und christlichen, aber auch der islamischen Religion. Und der letzte Band ist geprägt von den Sündenfällen des Westens, zumal im Kapitel "Von Kabul nach Bagdad: Bushs ,war on terror' und die Spaltung des Westens". Winklers Laudator, der Historiker und Journalist Volker Ullrich, ließ all das nicht unerwähnt, präsentierte dann aber doch die "Geschichte des Westens" vor allem als historiografisches Projekt und den Autor zwar als politischen Professor in der Tradition der 1848er, aber mit eher vagen Konsequenzen für die aktuelle Situation.

So fiel Winkler selbst die Aufgabe zu, aus seiner Geschichtsschreibung Lehren für die aktuelle Krise zu ziehen. Er ist bekannt als scharfer Kritiker Wladimir Putins und der Annexion der Krim und zugleich einer Öffnung der EU für die Türkei. Was folgt daraus, im Blick auf die von Deutschland angestrebte "europäische Lösung" angesichts der tiefen Spaltungen innerhalb der EU? Was folgt daraus für die Ziele eines - transatlantisch gedachten - Westens auf der Syrienkonferenz? Winklers Dankesrede war enttäuschend, weil sie diese Antworten nicht gab. Sie beschied sich damit, die historische Rolle Leipzigs in der friedlichen Revolution von 1989 zu würdigen und die polnische Zivilgesellschaft als Garanten dafür zu beschwören, dass Polen aus der "Wertegemeinschaft des Westens" nicht ausschert.

(Foto: Daniela Wiesemann)

An den einzigen Punkten aber, an denen Winkler konkret wurde, sprach gerade nicht der Historiker, der seine "Geschichte des Westens" auf die Globalgeschichte hin öffnen will. Wie derzeit in Deutschland üblich, hatte Winkler in seinen Passagen zur Flüchtlingskrise nahezu ausschließlich deren innenpolitische Konsequenzen im Blick, die Sorge um den "politischen Rückhalt in der Bevölkerung". Als ideale Fassung des Asylartikels im Grundgesetz schlug er vor: "Politisch Verfolgten gewährt die Bundesrepublik Deutschland nach Maßgabe ihrer Aufnahme- und Integrationsfähigkeit Asylrecht." Und auch das derzeit unvermeidliche Max-Weber-Zitat, in dem die verantwortungsethische (im Kontrast zur gesinnungsethischen) Position dadurch definiert ist, "dass man für die (voraussehbaren) Folgen seines Handelns aufzukommen hat", zog er, ohne die Kanzlerin namentlich zu nennen, ausschließlich in innenpolitischer Perspektive heran. "Europa 21" aber setzt die Reflexion der Nicht-Abwählbarkeit der Konflikte im Nahen Osten und ihrer Konsequenzen voraus.

© SZ vom 18.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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