Leipziger Buchmesse:Echoraum der europäischen Unruhe

Die Literatur in Zeiten des Terrors: In Leipzig reden geladene Gäste und Besucher der Buchmesse über Politik und wie sie die Welt erschüttert.

Von Lothar Müller

Der Anschlag von London hatte sich noch nicht herumgesprochen, als am Mittwochabend im Leipziger Gewandhaus der Festakt zur Eröffnung der Buchmesse stattfand. Aber der sächsische Ministerpräsident Tillich erinnerte daran, dass dieser 22. März der Jahrestag der Anschläge von Brüssel war. Mit dem Wort "Brüssel" stand aber nicht nur einer der Schauplätze des aktuellen Terrorismus im Raum, sondern zugleich die von innen wie von außen gefährdete Einheit der Europäischen Union. Die Städtenamen und die Namen von Ländern, die bei diesem Auftakt und am ersten Messetag aufgerufen wurden, zeigten, dass in Leipzig in diesem Jahr zwei Traditionen miteinander verkoppelt werden.

Die eine entstammt dem Jahrzehnt nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Ihr verdankt die Leipziger Buchmesse ihre Öffnung hin auf den innereuropäischen Osten, auf die Länder Mittel- und Südosteuropas. Das diesjährige Gastland Litauen, seit 2004 Mitglied der Europäischen Union, steht in dieser Tradition.

Die jüngere, in den letzten Jahren hinzugekommene Tradition verweist auf den Osten jenseits Europas, auf die Weltregionen, die einmal "der Orient" hießen. Beide waren beim Auftakt und am ersten Messetag höchst präsent. Der Bogen spannte sich von Vilnius und dem Balkan über Istanbul nach Damaskus und in den Mittelmeerraum bis nach Nordafrika.

Buchmesse Leipzig

Ein Lesefest war die Buchmesse in Leipzig schon immer. Doch in diesem Jahr verschärfen sich die Debatten am Rande.

(Foto: Jan Woitas/dpa)

Als Litauen sich auf den Weg in die Europäische Union machte, brachen junge Franzosen in den Nahen Osten auf, lernten Arabisch, erforschten die alten Handelsbeziehungen und Konfliktlinien zwischen dem Orient, Mittel- und Westeuropa. Auch das war Teil der europäischen Selbstvergewisserung nach dem Zerfall der Nachkriegsordnung. Aus dieser Bewegung ist Mathias Énard hervorgegangen, der bei der Eröffnungsveranstaltung den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung erhielt. Seine Laudatorin, die Historikerin Leyla Dakhli, 1973 in Tunis geboren, berichtete, wie sie und Mathias Énard in den mittleren Neunzigerjahren, die Tradition des westlichen Orientalismus im Rücken, in Damaskus die Geschichte und Kultur des arabischen Nahen Ostens zu erforschen begannen, wie sich Énard immer tiefer in die Sprache und das Wissen dieser Welt hineinwühlte und wie die Kriege und niedergeschlagenen Revolutionen in der Region und schließlich das Scheitern des Arabischen Frühlings sich zur großen Desillusionierungserfahrung zusammenschlossen.

Aus dieser Desillusionierung seiner Generation, genauer aus dem Aufbegehren gegen diese Desillusionierung ist Mathias Énards Roman "Kompass" hervorgegangen, für den er nun ausgezeichnet wurde. Seine Dankesrede war ein Appell an die westlichen Gesellschaften, ihre nicht europäischen, orientalischen Wurzeln nicht zu vergessen, eine Erinnerung an Europa, die libanesische Prinzessin, "die an einem Strand bei Sidon von einem Gott des Nordens entführt wurde", sie war "eine illegale Einwanderin, eine Ausländerin, eine Kriegsbeute". Gegen das Phantasma der Reinheit und "identitären Erstarrung" setzte Énard wie in seinem Roman die gefräßige Neugier, die "Erotik des Wissens" und ihr Medium, die Vielsprachigkeit.

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Die Kulturministerin der Republik Litauen, Liana Ruokytė Jonsson, hatte zuvor in ihrer Festrede an den Auftritt ihres Landes bei der Frankfurter Buchmesse 2002 erinnert, an die Euphorie nach der wiedergewonnenen staatlichen Souveränität und beim Aufbruch in Richtung Europäische Union, an die damalige Präsentation des mittelalterlichen Großfürstentums und Vielvölkerreiches Litauen, das als Erbe in den neuen Multinationalismus einbezogen werden sollte. Als sie dann aber vom Beitrag der Literatur zu einem künftigen Europa sprach, verwies sie auf Lion Feuchtwangers im Exil entstandenen Roman "Der falsche Nero", eine antik kostümierte Satire auf den Populismus an der Macht und das Deutschland des Nationalsozialismus und auf den Essay "Verführtes Denken" des polnischen, in Litauen geborenen Nobelpreisträgers Czesław Miłosz.

Das Baltikum und der Mittelmeerraum mit Blick auf den Bosporus markieren die Pole der Diskussionen der Messe. Tomas Venclova, in der Breschnew-Ära der Sowjetunion Gründungsmitglied der litauischen Helsinki-Gruppe, Freund von Andrei Sacharow, Joseph Brodsky und Czesław Miłosz, der ins amerikanische Exil ging, präsentierte sein Erinnerungsbuch "Der magnetische Norden". Er rückte Litauen von den baltischen Nachbarn Estland und Lettland ab, betonte die katholischen und barocken Traditionen seines Landes, die kulturellen Importe aus dem europäischen Süden, die nach Triest, ans Mittelmeer, verweisen.

Hinweis der Redaktion

Vilnius und die kurische Nehrung, auf der Thomas Mann einige Jahre sein Sommerhaus hatte, rücken in Leipzig an Damaskus und Istanbul heran. Türkische Journalistinnen plädieren für mehr Sachbuch-Übersetzungen aus der arabischen und nordafrikanischen Welt. Es gibt Solidaritätslesungen für Deniz Yücel. Per Videoschaltung aus Istanbul befürchtet die mit einem Ausreiserverbot belegte Autorin Asli Erdoğan, der Präsident werde beim bevorstehenden Referendum gewinnen.

Der Begriff "Krisenregion" begnügt sich nicht mehr mit seiner Stammheimat, den außenpolitischen Debatten. Immer mehr Gesellschaften werden in ihren Binnenräumen zu Krisenregionen. Im "Denkraum Europa 21" sitzt Martin Roth, der wegen des Brexit seinen Posten als Direktor des Victoria & Albert-Museums in London aufgegeben hat, neben Katarzyna Wielga-Skolimowska, der ehemaligen Leiterin des polnischen Kulturinstitutes in Berlin, die von der Regierung ihres Landes ihres Amtes enthoben wurde.

Roth plädiert beim Panel "Was ist 'das Volk'" noch einmal für Europa als Friedensprojekt. Seine Nachbarin mag den Begriff "Volk" kaum noch benutzen, weil er zum Instrument innergesellschaftlicher Feinderklärung geworden ist. Als Lesefest gilt Leipzig seit je. In diesem Jahr ist die Messe ein Echoraum der europäischen Unruhe.

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