Leipziger Buchmesse 2011:Wetterleuchten zum Steak

Joseph Mitchell war der Wegbereiter des New Journalism und einer jener genialischen Autoren, die Großes schrieben, um dann zu verstummen: Seine Texte aus den ersten Jahren beim "New Yorker" gibt es nun endlich auf Deutsch.

Andrian Kreye

Man begeht natürlich Hochverrat an der vornehmen Distanz des objektiven Rezensierens, wenn man eine Buchbesprechung mit dem Eingeständnis beginnt, dass die amerikanische Originalausgabe dieses Buches seit nun fast zwanzig Jahren griffbereit in der Nähe des eigenen Schreibtisches liegt. Sie liegt da zum einen, weil Joseph Mitchells Geschichten aus den Kneipen, Hafen- und Einwanderervierteln der Stadt New York mit ihrem erzählerischen Sog das beste Gegenmittel gegen jeden Anflug von Schreibhemmung sind. Zum anderen, weil Mitchell mit seinen Erzählungen, die er zwischen 1938 und 1964 für die Zeitschrift New Yorker verfasste, den Journalismus bis heute geprägt hat.

Ende der Prohibition in den USA, 1933

Joseph Mitchell liebte Männerrunden in Kneipen. Ihr Verschwinden zeugte schon in den 30er Jahren vom gesellschaftlichen Wandel Amerikas.

(Foto: Scherl)

Joseph Mitchell lieferte die Blaupause für die literarische Ambitionen des New Journalism. Gleichzeitig ebnete er den Weg für Schriftsteller wie Paul Auster und Jonathan Lethem, für Filmemacher wie Woody Allen und Jim Jarmusch, für Autoren also, die aus den Nischen der Stadt heraus Geschichten von zeitloser Bedeutung erzählen können.

Und letztlich wurzelt in Mitchells Geschichten auch die komplexe Ironie, die man nun in den "Fake News"-Sendungen der Fernsehkomiker Jon Stewart und Stephen Colbert findet.

In der Geschichte "Essen, bis Sie platzen - für nur fünf Dollar" erzählte Mitchell beispielsweise 1939 vom ersten Wetterleuchten der gesellschaftlichen Umwälzungen, die Amerika für immer verändern sollten. Da beginnt er: "Das New York Steak Dinner oder Beefsteak ist eine zur Tradition erhobene Form der Völlerei, die als regionale Eigenheit dem Riverband Fish Fry der Südstaaten, dem Clambake in New England oder dem texanischen Barbecue ähnelt." Ein paar Absätze weiter beschreibt er die Erschütterung, die das Frauenwahlrecht und die damit einhergehende Ansicht ausgelöst hatten, dass auch Frauen zu den Steak Dinners eingeladen werden sollten.

"Die Frauen brauchten nicht lange, um die Beefsteaks zu verderben. Sie erzwangen Neuerungen wie Manhattans, Frucht-Cocktails und raffinierte Salate, um das traditionelle Speisen- und Getränkeangebot - gut abgehangene Steaks, doppelte Lammkoteletts und Nieren sowie eimerweise Bier - zu ergänzen. Sie verlangten Tanzorchester anstelle von deutschen Blaskapellen. Zuvor war der Mann, der am lautesten grunzte, das meiste Bier trank, am meisten Fleisch aß und sich dabei am meisten Fett ins Gesicht schmierte, Herz und Seele jeder solchen Feier gewesen. Doch Frauen schätzen keine Vielfraße, so dass es bei heutigen Beefsteaks nicht mehr üblich ist, mehr als zweieinhalb Kilo Fleisch zu essen und dreißig Glas Bier zu trinken."

Mitchell liebte solche archaischen Gesellschaftsformen, die sich im New York Ende der dreißiger und Anfang der vierziger Jahre unberührt von der liberalen Moderne und den Bürgerrechten fanden. Und er nahm die Beobachtung dieser Gesellschaften sehr ernst.

"McSorley's Wonderful Saloon" ist erstmals 1943 erschienen und besteht aus den Texten seiner ersten Jahre beim New Yorker. Man spürt, was für ein Befreiungsschlag es für Mitchell gewesen sein muss, den Zwängen des Zeitungsjournalismus entronnen zu sein. Als Einundzwanzigjähriger war er 1929 aus North Carolina nach New York gekommen. Zunächst arbeitete er als Lokalreporter für die Herald Tribune, berichtete über Brooklyn, die West Side von Manhattan und das Schwarzenviertel Harlem.

Schmucklose, präzise Sätze

Im Sommer 1931 heuerte er kurzfristig auf einem Frachter an. Doch im Herbst arbeitete er schon wieder für Zeitungen, die Morning World, das World-Telegram. Er interviewte Stars wie die Schauspielerin Tallulah Bankhead, den Boxer Joe Louis oder den Dramatiker Noël Coward. Bald waren seine Reportagen so populär, dass die Zeitung mit seinem Namen Werbung auf der Titelseite machte. Dann engagierte ihn Harold Ross für den New Yorker.

Straße der Verlierer und Verlorenen

Den erzählerischen Sprung, den Mitchell dort machte, kann man in den englischen Originalausgaben vergleichen. In dem Band "My Ears are Bent", der 1938 erschien, versammelte Mitchell Texte aus seinen Zeitungsjahren, die er bewusst aus den späteren Bänden heraushielt. Das stilistische Fundament findet sich schon dort. Die schmucklosen, präzisen Sätze, die literarische Dramaturgie, die sich nicht am Druck der Nachricht, sondern am Rhythmus der Kurzgeschichte orientiert. Ein Stil, der auch in der Übersetzung seinen Sog entwickelt.

Was ihm der New Yorker aber genehmigte war das große Privileg der Literaten: Zeit. So verbrachte Joseph Mitchell nicht mehr Tage und Nächte, sondern Monate, manchmal Jahre mit seinen Figuren und Texten. In "McSorley's Wonderful Saloon" tauchten so manche Figuren aus seinen Zeitungsreportagen wieder auf. Mazie Gordon beispielsweise, die Kassenfrau eines heruntergekommenen Kinos nahe der Bowery, der Straße der Verlierer und Verlorenen, denen sie als eine Art Schutzengel zur Seite stand. Der Wirt und die Gäste eben jenes McSorley's, der ältesten Kneipe der Stadt (die es bis heute gibt). Und da war "Professor Möwe", ein Stadtstreicher und Privatgelehrter namens Joe Gould, der zwischen manischem Schreibzwang und depressiver Schreibblockade an einem Mammutwerk arbeitete, das sich später als Schimäre entpuppte.

Die endgültige Geschichte über Joe Gould erschien in der New-Yorker-Ausgabe vom 26. September 1964 und sollte der letzte nennenswerte Text sein, den Joseph Mitchell veröffentlichte. Trotzdem ging er bis zu seinem Tode im Mai 1996 jeden Tag zur Arbeit in die Redaktion des New Yorker. Als er mit 87 Jahren starb, druckte die Zeitschrift gleich zehn Nachrufe auf ihn ab.

Der einstige Literaturredakteur Roger Angell schrieb da über seinen ehemaligen Kollegen: "Er hatte nicht mit dem Schreiben aufgehört, das war klar, er arbeitete nur an einem Stück, das nicht so richtig klappte. Jeden Morgen stieg er geschäftig aus dem Aufzug, nickte einem, wenn man gerade den Gang entlang kam, wortlos zu, und schloss sich in seinem Büro ein. Zur Mittagszeit kam er wieder heraus, trug immer seinen schicken, braunen Filzhut (im Sommer einen aus Stroh) und einen hellbraunen Regenmantel. Eineinhalb Stunden später kehrte er wieder zurück. Man hörte selten ein Tippen. (...) Manchmal, abends im Aufzug, hörte ich, wie er leise seufzte."

Mit seinem legendären Schweigen gehört Joseph Mitchell in die Reihe der genialischen New Yorker Autoren, die Großes verfassten, um dann zu verstummen, zu denen J.D. Salinger zählte, Jim Carroll und bis heute auch Fran Lebowitz. Wer nun "McSorley's Wonderful Saloon" zum ersten Mal liest, wird auch 68 Jahre nach dem ersten Erscheinen eine große Entdeckung machen.

Joseph Mitchell: McSorley's Wonderful Saloon. Aus dem Englischen von Sven Koch und Andrea Stumpf. Diaphanes Verlag, Zürich/Berlin 2011. 416 Seiten, 22,90Euro.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: