Süddeutsche Zeitung

Lehren aus der Trauer um Charlie Hebdo:"Wenn wir schweigen, war das nur der Anfang"

Ein Jahr nach den Anschlägen auf Charlie Hebdo lassen Daniel und Emmanuel Leconte mit ihrem Film "Je suis Charlie" die Toten auferstehen. Sie appellieren an den Mut - auch in Deutschland.

Von Ruth Schneeberger

Ihr Film "Je suis Charlie" ist ein flammendes Plädoyer. Dafür, die Opfer nicht zu vergessen, die für die Meinungsfreiheit gestorben sind. Dafür, sich nicht immer nur auf die Täter zu konzentrieren, sondern sich an die Redaktion von Charlie Hebdo zu erinnern, die fast ausgelöscht wurde. Wir sehen lachende, tanzende, singende Journalisten - die inzwischen tot sind, ermordet. Und wir sehen ihre überlebenden Kollegen, wie sie direkt nach den Anschlägen gegen ihre Fassungslosigkeit ankämpfen.

Die französischen Filmemacher Daniel Leconte ("Carlos der Schakal") und Emmanuel Leconte (spielte den französischen König Franz I. bei den "Tudors") haben für ihre Doku eindrucksvolle Interviews sowohl vor als auch nach den Anschlägen geführt und mit den Bildern der Pariser angereichert, die am 11. Januar 2015 in einem riesigen Trauermarsch ihre Solidarität bekundeten. Der Film läuft seit dem 7. Januar, dem Jahrestag des Anschlags, in den deutschen Kinos.

SZ: Ihr Film ist sehr emotional. Weil Sie ihn direkt nach den Anschlägen gedreht haben und selbst noch unter Schock standen, oder haben Sie eine besondere Beziehung zu "Charlie Hebdo"?

Daniel Leconte: Beides.

Auf welche Weise sind Sie mit der Redaktion verbunden?

Daniel Leconte: Ich habe schon 2007 einen Film über sie gedreht, die Doku "It's Hard Being Loved by Jerks". Damals ging es um den Gerichtsprozess rund um die Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen, die aus der dänischen Zeitung Jyllands-Posten abgedruckt wurden. Das Gericht hat Charlie Hebdo damals recht gegeben, weil sie damit eine wichtige Debatte in Frankreich angestoßen haben. Wir waren alle zusammen mit dem Film in Cannes. Und mit Cabu war ich befreundet (Jean Cabut, ermordeter Cartoonist; Anm. d. Red.). Wir waren eine Woche vor dem Anschlag noch Abendessen. Wir haben für dieselbe Sache gekämpft. Deshalb hatten sie Vertrauen zu mir, und ich konnte diesen neuen Film direkt nach dem Anschlag vom 7. Januar vergangenen Jahres drehen, ein paar Wochen danach.

Emmanuel Leconte: Wir wollten schnell reagieren. Erst gab es diesen Moment der Bestürzung. Aber die Leute vergessen sehr schnell die Opfer und konzentrieren sich auf die Täter. Sie wollen wissen: Wo kommen die her, wo kommt diese neue Form des Terrors her? Das sind auch alles wichtige Fragen, aber in dem Moment doch eher für die Polizei. Für uns als Bürger und auch Freunde war es wichtig, schnell daran zu erinnern, dass diese Menschen nicht bei einem Unfall gestorben sind. Und die Überlebenden haben verstanden, dass sie diesen historischen Moment nutzen müssen.

Die Macher des Satiremagazins haben für ihre Provokationen viel Kritik einstecken müssen.

Emmanuel Leconte: Das müssen sie immer noch. Nach jeder neuen Attacke hieß es: Die wollen doch nur Aufmerksamkeit. Oder Geld. Oder Ärger machen. All diese grässlichen Argumente, um die Opfer selbst zur Verantwortung zu ziehen.

Warum werden Opfer immer wieder zu Tätern gemacht?

Emmanuel Leconte: Aus Angst. Auch heute noch sagen manche, wir Franzosen wären nicht in dieser Situation, wenn Charlie Hebdo die Mohammed-Karikaturen nicht veröffentlicht hätte.

Die wollen das Täterprinzip umdrehen, um ihre Ruhe zu haben?

Emmanuel Leconte: Ja, deshalb wird auch vergewaltigten Frauen vorgeworfen, sie hätten zu kurze Röcke getragen. Oder die Juden wären ermordet worden, weil sie angeblich so viel Geld angehäuft hätten. Manche verweigern sich der Realität, weil es leichter für sie ist, zu denken: Ohne Charlie Hebdo hätten wir diese Probleme nicht. Natürlich hätten wir sie doch. Der beste Beweis: Die am 8. Januar getöteten Juden haben keine Cartoons veröffentlicht. Und die im November Getöteten haben sich keinerlei Blasphemie schuldig gemacht.

Als Sie Ihren ersten Film über "Charlie Hebdo" gedreht haben: Hätten Sie jemals ein solches Massaker für möglich gehalten?

Daniel Leconte: Ja. Leider. Deshalb waren danach auch viele wütend auf uns. Weil wir damit rechnen mussten. Wir wussten, dass so etwas passieren kann, in welche Richtung sich das alles entwickelt. Wir wussten, dass das ein Krieg gegen uns ist. Aber in einer solchen Situation muss man umso stärker seine Werte hochhalten.

Emmanuel Leconte: Was ich überhaupt nicht erwartet habe, auch wenn es nur ein Detail ist, ist die Methode. Ich hätte damit gerechnet, dass einer auf der Straße erschossen wird. Aber nicht diese militärische Handlungsweise, mit Kalaschnikows, an den Polizeiwagen vorbei, und dann dauert es noch zwei Tage, bis sie gefangen werden. Wir wussten aber danach schon, dass es wieder Anschläge geben wird. Dass das nur der Start einer Serie von furchtbaren Attacken sein würde. Aber ich hätte nicht gedacht, wie barbarisch diese Leute sich auf junge Menschen in einer Konzerthalle stürzen und gleich 130 töten würden. Jetzt spekuliert man darüber, dass der nächste Schritt eine koordinierte Attacke in verschiedenen Städten Europas zur gleichen Zeit sein könnte.

Koordiniert erscheinen jetzt auch die Übergriffe zu Silvester in Deutschland. Haben Sie davon gehört?

Emmanuel Leconte: Ja, das war auch ein Terrorakt - wenn auch in einer ganz anderen Dimension. Es war ganz offensichtlich koordiniert.

Daniel Leconte: In Deutschland ist so etwas einfacher als in Frankreich. Wir haben inzwischen verstärkte Sicherheitsvorkehrungen. Aber ich bin mir sicher: Wir werden auch wieder attackiert werden. Wenn wir nicht aufpassen und schweigen, war das alles nur der Anfang.

Inwiefern aufpassen? Was können wir tun? Außer unsere Werte hochzuhalten? Hilft mehr Polizei?

Daniel Leconte: Da gibt es verschiedene Ebenen. Zuerst brauchen wir mehr Sicherheitsvorkehrungen. Bessere Organisation der Geheimdienste, bessere Möglichkeiten, die Aktivitäten dieser Leute zu kontrollieren. Aber noch wichtiger ist die Gesellschaft: Ist sie bereit, sich zu verändern und auf diese Bedrohung richtig zu reagieren? Und davor noch muss man sich eines großen Problems annehmen: Es gibt gerade wahnsinnig viel Migration. Auf der einen Seite ist das gut für Europa, eine echte Chance. Auf der anderen Seite ist das die Basis für Dschihadisten, ihre Leute zu rekrutieren. Wenn wir dieses Problem in den Griff bekommen wollen, müssen wir die Neuankömmlinge überzeugen. Wir müssen stärker sein als unsere Gegner.

Emmanuel Leconte: Wir müssen sie für uns gewinnen.

Daniel Leconte: Wir leben schon so lange in Frieden in Europa, 70 Jahre lang. Das war normal für uns. Aber jetzt müssen wir dafür kämpfen. Unser Lebensmodell wird attackiert von einem neuem Totalitarismus. Als allererstes müssen wir das benennen. Diesen neuen Feind. Natürlich sind nicht alle Muslime Terroristen, aber fast alle dieser Attentäter waren Muslime. Die wollen unsere Gesellschaft ändern. Sie töten. Auch für Journalisten ist das eine große Frage: Sie müssen anfangen, sich zu überlegen, wie sie zu dieser Frage stehen. Auch zum Thema Islamophobie.

Inwiefern?

Daniel Leconte: Zum Beispiel wird Frankreich immer wieder vorgeworfen, islamophob zu sein. Aber nach den Massakern im November gab es keine Islamophobie. Es wurden keine Muslime angegriffen. Die Franzosen haben unglaublich erwachsen auf die Vorfälle reagiert. Aber wenn man sich im Fernsehen angeschaut hat, wie etwa nach den Anschlägen im Januar reagiert wurde: Ein paar Leute haben Charlie Hebdo verteidigt. Aber noch mehr Menschen war es wichtig, die Muslime zu verteidigen, aus Angst, es könne Islamophobie aufkommen. Ich habe die Macher gefragt: Was macht ihr da? Sieben Leute wurden umgebracht. Das waren keine Muslime, sondern Juden, Christen und Atheisten, Journalisten und Intellektuelle. Aber ihr ladet Muslime ein, um über Islamophobie zu diskutieren? Okay, da gibt es ein gewisses Risiko, aber das andere Risiko ist größer. Schon für uns ist das schwierig zu begreifen, aber versetz dich mal in die Lage von Muslimen. Man drängt sie ja gerade dazu, sich als Opfer zu fühlen. Wir müssen aber doch diese Leute stattdessen von unseren Werten überzeugen! Nur so können wir diese negativen Dinge in etwas Gutes verwandeln.

Ich sehe das Problem in ähnlicher Form aktuell auch in Deutschland.

Emmanuel Leconte: Was da passiert ist an Silvester: Es ist ein Fehler, dass Leute in öffentlichen Positionen zu ängstlich sind, um die Realität zu beschreiben. Ich kann verstehen, was dahintersteckt, und was sie nicht provozieren wollen. Es ist immer ein Risiko, wenn man das Böse benennt, weil es die Gefahr der Verallgemeinerung gibt. Aber wenn man es nicht macht, wird es nur noch schlimmer. Wir müssen diesen Kontinent beschützen, der attackiert wird. Eine Minderheit dieser Leute pervertiert das mit terroristischen Attacken. Sie zerstören diese schöne Geste von Deutschland, inmitten der größten Flüchtlingsbewegung, die Europa je gesehen hat. Es muss ein gemeinsamer Kampf sein für beide Interessen. Für sie in ihrem neuen Zuhause, das sie willkommen heißt. Und für uns, um uns sicher zu fühlen. Was in Köln passiert ist, ist ein sehr starkes Symptom dessen, was vor sich geht.

Auch "Charlie Hebdo" wurde Rassismus vorgeworfen.

Emmanuel Leconte: Charlie Hebdo war immer zwischen zwei Feuern: Sie waren ihrer Zeit voraus, haben schon vor zehn Jahren kommen sehen, worüber wir heute diskutieren. Sie hatten mit Fundamentalisten zu tun, die bereit waren, sie zu töten. Auf der anderen Seite mussten sie gegen Leute ankämpfen, die ihnen vorwarfen, Rassisten zu sein. Wir leben in einem Kontinent mit hohen Werten. Nicht rechtsextrem zu erscheinen, war immer sehr wichtig für Charlie Hebdo. Es gab Leute, die ihre Cartoons manipuliert haben, um sie in die rechte Ecke zu drängen. Wenn in Köln jemand sagt, diese Männer haben Frauen bedrängt, ist er ein Rassist? Darüber können wir nicht reden, damit wir nicht als Rassisten dastehen, also lasst uns lieber darüber schweigen, dass Frauen von Männern vergewaltigt und erniedrigt werden? Das ist komplett verrückt!

Was kann man dagegen tun, dass auch Intellektuelle sich dem Terror auf diese Weise beugen?

Emmanuel Leconte: Wenn ein Intellektueller seine Argumente nicht so formulieren kann, dass die Leute sie richtig verstehen, ist er kein Intellektueller. Das Problem ist komplex, aber die Fronten sind klar. Wer sich da hinter Ausflüchten und Ablenkung versteckt, ist kein Intellektueller, sondern er folgt dem Mainstream, und das ist etwas anderes.

In Ihrem Film fragt die Philosophin Elisabeth Badinter: Was können wir tun, damit junge Journalisten sich nicht von den Ereignissen um "Charlie Hebdo" negativ beeinflussen lassen? Wie die Angst nehmen?

Daniel Leconte: Das ist ein Appell an die Journalisten. Wenn ihr euch nicht darum kümmert, können die anderen gewinnen. Darum geht es. Es ist ein Aufruf zu guter Arbeit, Ehrlichkeit und Respekt vor der Pflicht zur Information. Und ich finde: Wenn Journalisten Angst vor dem IS haben, sollten sie den Job wechseln.

Zurück zum Film: Einige der Überlebenden wirken, als würden sie zum ersten Mal davon erzählen.

Emmanuel Leconte: Es war das erste Mal für sie - nachdem sie es der Polizei und einem Psychologen erzählt haben. Und gleichzeitig das letzte Mal für manche. Sie wollten mit niemandem sonst darüber reden. Für sie war es fast kathartisch, nach diesem Trauma. Es war eine Form für sie, die Terroristen nicht gewinnen zu lassen, die Kontrolle über ihr Leben zurückzuerobern. Sie konnten sagen: Wir sind hier, wir sprechen über das Böse - so lange wir können.

Der Zeichnerin Coco laufen während des Drehs immer wieder Tränen übers Gesicht. Sie wurde später angefeindet, weil sie den Terroristen die Tür geöffnet hat. Sie spricht auch im Film darüber, wie zerrissen sie sich dabei fühlte. Sie wusste, dass sie damit das Leben ihrer Kollegen gefährdete, und musste gleichzeitig an ihre Tochter denken, die Kalaschnikow im Rücken. Wollte sie selber davon erzählen oder haben Sie gezielt danach gefragt?

Emmanuel Leconte: Sie wollte es selber loswerden. Das Tolle ist, dass sie so ehrlich über alles spricht, ohne irgendeine Maske. Sie versucht nichts zu verstecken, sie ist sehr mutig. Du kannst nicht mehr tun, um anderen verständlich zu machen, was da passiert ist. Es fühlt sich in diesem Moment fast so an, als wären wir als Zuschauer an ihrer Stelle.

Aber nicht alle wollten mit Ihnen vor laufender Kamera reden.

Emmanuel Leconte: Nur einer nicht, Luz (Cartoonist Renald Luzier), und der hat es gut begründet.

Daniel Leconte: Er sagte: Ich kann nichts dazu sagen, das ist zu emotional für mich. Er hat während des Films die Dreharbeiten verlassen.

Emmanuel Leconte: Er war am Tag des Anschlags länger im Bett geblieben, deshalb kam er später in die Redaktion und hat überlebt. Es war sein Geburtstag. Auch mein Vater hat an diesem 7. Januar Geburtstag.

Es heißt, Luz hatte die Sorge, dass Sie die Redakteure von "Charlie Hebdo" als Helden feiern wollen - so wie sie sich selbst nie gesehen hätten.

Daniel Leconte: Ja, das ist wahr. Und sie sind es trotzdem. Ohne ihren Willen. Sie werden als Journalisten gesehen, aber ich finde, dass sie Künstler sind. Sie machen, was sie wollen, sie wollen absolut frei sein. Bis zum bitteren Ende. Als Journalist musst du die Dinge abwägen, ausbalancieren. Auch Charlie Hebdo hat uns geholfen, die Welt besser zu verstehen. Aber sie sind eher Künstler als Journalisten, weil sie diesen unbändigen Freiheitsdrang haben - und sich nicht davon haben abbringen lassen. Wir alle machen Kompromisse mit der Realität, um in Ruhe leben zu können, Sie und ich. Aber sie nicht. Ich wollte das eigentlich nie so formulieren, aber ich muss es zugeben: Ich halte sie für Helden. Merkt man das dem Film an?

Man merkt, dass Sie eine sehr starke Verbindung haben, dass Sie die Ereignisse persönlich betreffen. Manche finden den Film zu pathetisch. Einige Kritiker hätten sich mehr Informationen gewünscht, etwa über die Motive der Täter.

Emmanuel Leconte: Come on! Die sollen sich die Nachrichten anschauen! Charlie ist eine der am stärksten missverstandenen Zeitungen auf der Welt. Die meisten Leute lesen nicht die Artikel zu den Cartoons. Sie reißen sie aus dem Zusammenhang. Nachdem ich diesen Film gemacht habe, weiß ich: Wir können gar nicht weit genug gehen, um Charlie Hebdo besser verständlich zu machen. Ich würde sie nicht Helden nennen. Aber sie haben einen unglaublich wichtigen intellektuellen Beitrag dazu geleistet, die Bedrohungen dieser Zeit zu erkennen, früher als alle anderen.

Daniel Leconte: Charlie ist so stark kritisiert worden in den vergangenen Jahren. Es ist eher politisch korrekt, Charlie zu kritisieren als zu bewundern. Aber ich habe absichtlich diesen Dreh der Bewunderung für den Film gewählt. Es ist ein Kinofilm, er braucht eine Haltung. Ich habe gesagt: Ich werde Charlie Hebdo immer unterstützen - egal, was sie machen. Aber jetzt kritisiere ich sie auch.

Wofür?

Daniel Leconte: Für ihr aktuelles Cover zum Jahrestag der Anschläge.

Warum?

Daniel Leconte: Sie kritisieren damit alle Religionen und heben sie auf dasselbe Level. Versuchen Sie mal, sich in einen Christen zu versetzen, dessen Familie in Syrien oder Irak wegen seiner Religion getötet wurde. Oder denken Sie an die Juden, die tags darauf von den Terroristen getötet wurden. Aber sie sind Künstler, sie dürfen auch mal was falsch machen oder einen schlechteren Cartoon zeichnen. Ich halte es da mit Voltaire: Ich muss nicht deiner Meinung sein, aber ich würde alles dafür tun, damit du sie weiter äußern darfst. Wenn dem jeder zustimmen würde, hätten wir eine bessere Demokratie. Es gibt genügend Möglichkeiten, um über solche Fragen mit Leuten zu diskutieren. Man muss sie nicht töten.

Emmanuel Leconte: Ich sehe das anders, ich fand das Cover richtig gut. Riss (der neue Chefredakteur Laurent Sourisseau) ist ein neuer Boss, er hat ein neues Team. Und er schlägt damit gleich zwei Gegner: Einmal die Religion an sich - und auch die Leute, die aus Charlie Hebdo das oberste Anti-Islam-Magazin der Welt machen wollen. Eine große Qualität dieses Magazins war es immer schon, zu überraschen. Das war eine gute Gelegenheit, diese ganze Diskussion um die Anschläge einzudämmen und zurück zu ihren Wurzeln zu finden: Sie sind Atheisten, sie nehmen das Recht für sich in Anspruch, alles und jeden zu kritisieren.

Wie hat sich die Arbeit von Charlie Hebdo geändert, ein Jahr nach den Anschlägen? Sie arbeiten jetzt unter Polizeischutz, an einem geheimen Ort?

Emmanuel Leconte: Sie sind schwer bewacht. Charlie ist jetzt Teil der nationalen Sicherheit. Alle sind sich einig, dass nie wieder eine ganze Redaktion in Frankreich abgeschlachtet werden können darf. Aber es ist paradox. Sie sind zu einem Symbol geworden, das auch für Paranoia steht. Sie werden rund um die Uhr bewacht. Aber dadurch hatten sie Zeit und den Kopf frei, um sich um ihre Kreativität zu kümmern.

Daniel Leconte: Als die Terroristen aus dem Gebäude kamen, schrien sie: 'Wir haben Charlie Hebdo getötet.' Das war einer der Gründe für den Film. Als Charlie sich entschied, weiterzumachen, haben wir uns entschieden, den Film zu machen. Um zu zeigen, dass die Terroristen eben nicht gewonnen haben. Charlie ist lebendiger denn je. Vor dem 7. Januar haben sie wöchentlich 30 000 Ausgaben verkauft, jetzt sind es 80 000, auch die Abonnentenzahl hat sich vervielfacht.

Wenn Sie sagen, Sie haben mit dem Film auf den Terror reagiert: Fühlen Sie sich im Krieg?

Emmanuel Leconte: Wir haben uns nicht dazu entschieden. Wir sind nun mal im Krieg.

Aber Sie haben sich entschieden, teilzunehmen.

Emmanuel Leconte: Ja, man könnte auch aufgeben und nach Tahiti ziehen. Aber wenn man unsere Gesellschaft mag und wohlinformiert ist, kann man den Fakt nicht ignorieren, dass eine irre Bande von Faschisten sich entschieden hat, Leute aus unserem Land zu töten, wann immer sich ihnen die Gelegenheit bietet. Jeder muss sich in seinem eigenen Kontext dagegen wehren. Unser Film ist nur ein kleines Zeichen.

Wie ist der Stand der Diskussion in Frankreich nach den erneuten Anschlägen?

Daniel Leconte: Wenn Sie mich vor ein paar Monaten gefragt hätten, wäre ich pessimistischer gewesen. Aber jetzt haben wir angefangen, zu diskutieren. Es hat sich schon viel geändert. Die Leute besinnen sich jetzt - nach den erneuten Anschlägen, da sie gesehen haben, dass wirklich alle Charlie sind.

Emmanuel Leconte: Es muss noch viel getan werden, aber wir sind auf einem guten Weg. Traurig, dass erst so viele Leute sterben mussten.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.2812801
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ.de/rus/pak/lala
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.