"Legende" von Ronald M. Schernikau:Ende des Gesprächs

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Ronald M. Schernikau war Kommunist und homosexuell, beides ausdrücklich und lautstark. 1991 starb er mit nur 31 Jahren an Aids. Jetzt wurde "Legende" neu aufgelegt, seine tausendseitige Tirade gegen die Kultur.

Von Insa Wilke

„Wenn einem alles egal ist, braucht man auch nichts zu tun“: der Schriftsteller Ronald M. Schernikau. (Foto: Frank Feiertag)

Es gibt Bücher, von denen fühlt man sich bedroht, entmündigt, geknebelt. Ronald M. Schernikaus Hauptwerk, der Montageroman "Legende", ist so ein Buch. Mit Nora Barnacle alias Molly Bloom möchte man schimpfen: "Ich sage Ihnen, das Buch ist ein Schwein." Der Verbrecher-Verlag, bekannt für die Pflege sich der Konsumierbarkeit entziehender literarischer Werke, hat es jetzt in einer kritischen Ausgabe neu herausgebracht: 1000 Seiten Kult.

Schernikau, der 1960 in Magdeburg geboren wurde, aber in Lehrte mit seiner alleinerziehenden Mutter aufwuchs, dann in Westberlin studierte und noch im September 1989 in die DDR zu seinen Wahlverwandten übersiedelte, war schwul und Kommunist. Beides bekennend, lautstark und in seinen Werken kombiniert mit einem ästhetischen Rigorismus. 1991 starb er mit nur 31 Jahren an Aids. "Legende" beendete er kurz vor seinem Tod. Acht Jahre hatte er daran gearbeitet, zuletzt muss es eine Arbeit gegen die Zeit gewesen sein.

Was löst achtundzwanzig Jahre später so eine Aggression aus, liest man dieses Buch? Die politische Gewissheit? Die rücksichtslose Travestie, die Schernikaus Jan-Philipp-Reemtsma-Avatar in Vernichtungsfantasien schickt? Die Hybris? Der Widerspruch von Freiheitsbehauptung auf 1000 Seiten und autoritärer Geste mit ihnen? Es dürften jedenfalls nicht nur die winzigen, auf hauchdünnes Papier gedruckten Buchstaben sein, die man angesichts der gleich zwei stilvoll in Rosa gehaltenen Lesebändchen verzeiht.

Es gibt etwa ein Dutzend Haupfiguren, zwei schwule Paare, und die "liberale öffentlichkeit"

Elf Teile plus Bauplan, das ist die "Legende": Fünf Hauptteile, die sich in Stil und Anordnung mit der Bibel messen. Die Hauptteile rhythmisiert durch vier große und einige kleinere "Einlagen" in Gestalt von Gedichten, Monologen, einer Witzsammlung, einer Filmskizze, einem Stück. Außerdem Prolog und Epilog. Es treten ungefähr zwei Dutzend Hauptfiguren auf, darunter "janfilip geldsack" und "anton tattergreis", die Königin Lydia Soldat (auch stellvertretende Vorsitzende der KP), das Alter Ego des Autors als "neffe von ulla", ein weitsichtiges Kind, eine Honecker-Parodie im Plastikanzug, diverse Frauenfiguren nebst einer unübersichtlichen Schar von Nebenfiguren wie "margarete plätscherlich", zwei schwulen Paaren, einem "pädoopfer" und der "liberalen öffentlichkeit".

Die Handlung der Hauptteile wird initiiert von den vier Göttern fifi, kafau, stino und tete (ehemals Ulrike Meinhof, Therese Giehse, Max Reimann, Klaus Mann). Sie haben Nachwuchsprobleme und lassen sich zu den Menschen auf die "insel" (= Westberlin = Vergangenheit) herab, um sie zu ihrem Glück zu zwingen. Das wiederum wäre im "land" (= kleine, süße ddr = Zukunft) zu finden. Auf der Insel steht die Schokoladenfabrik von Anton Tattergreis, deren Schließung sein Nachfolger janfilip betreiben möchte, um das Kapital abzuschaffen. Gegen die Schließung des insularen Krankenhauses wiederum wird demonstriert. Janfilip will verschwinden, Tattergreis will wiederum janfilip oder einen anderen Knaben ins Bett kriegen, Lydia will die DKP: "was tut man nicht, um sich zu verschaffen, daß man plötzlich lachen muß."

"Legende" ist ein Buch für Strukturalisten. Wer sich allein dem Gewimmel der sechs Hauptteile ausliefert, wird sich randalierend in der Zwangsjacke wiederfinden: "Die situationen in dieser legende haben etwas entnervend statisches", schreibt Schernikau in einer seiner Leseransprachen und lässt einen am ausgestreckten Arm im Schokoladenquark verhungern. Man kommt sich vor wie bei Jim Hensons "Fraggles", wobei Schernikaus Zitat-Montagen aus ästhetischer und politischer Theorie und Literatur die Rolle der allwissenden Müllhalde übernehmen. Oder, sehr schön, ein Rilke-Verschnitt, den die Herausgeber noch nicht entdeckt und annotiert haben: "du schönster unter der sonne, schrie ich wirklich oder dachte es bloß, die augen geschlossen".

Obwohl es Spaß macht, Schernikaus Verschlüsselungen aufzudecken, entsteht in dieser kalten, ganz auf Distanzierung setzenden Travestieshow Erfahrungshunger. Stillen können ihn die "Einlagen", die an Erika Runges Verfahren geschulten Gesprächsprotokolle zum Beispiel. Unter anderem berichtet Schernikaus Mutter alias Irene Binz von ihrer bitteren deutsch-deutschen Biografie und davon, wie ein Mensch innerlich stumm wird, der seinen politischen Ort verliert. Im Finale - und es ist ein waschechtes - bewegen die Passagen, in denen Schernikau sich unverschlüsselt mitteilt: "krankheit, therapie, prophylaxe. Hilflosigkeit, sterben, distanz. Ein wissensstand. Eine beruhigung. Eine zeit, ein mitgefühl, ein verstandensein. Der alltag, das stückwerk, keine depression. Das maß der beteiligung."

Solche Abschnitte bieten tatsächlich die Offenheit, die "legende" permanent behauptet. Auch die Kapitel zur Pädophilie und zu den Konflikten zwischen Studenten und Arbeitern vermeiden es, Urteile vorzugeben, ermöglichen aber eine Urteilsbildung beim Leser. Die einmontierten Gedichte, eine rasante pornografische Szene und die Geschichten, die vom Schwulsein in der Gesellschaft der Achtzigerjahre erzählen, schlagen einen anderen Ton an als der politische Überbau der "legende". Sie lassen einen ein und sind dabei immer formbewusst. Der Effekt: aus individuellen Geschichten werden historische Erfahrungen wie im Fall von der metrisch durchgearbeiteten Einlage "Irene Binz, die Frau im Kofferraum". Von wegen: "die legende kennt das historische überhaupt nicht, sie kennt und erkennt nur tugend und wunder."

Der Kommentar räumt selbst ein, von der Verweisdichte überfordert zu sein

Die Figuren (im Sinne von Charakteren und im Sinne von Schreibweisen) der Einlagen wirken in die Travestie-Teile zurück. Sie legen Widerspruch ein, ermöglichen Nähe und sorgen für eine sozialanalytische, aber auch ästhetische und psychologische Tiefe, der sich "Legende" im Gestus verweigert. Heute würde man sagen, Ronald M. Schernikau arbeitet mittels Überaffirmation, um Widerstand zu leisten. Denn dies ist die Diagnose, die er der Gesellschaft stellt: "wenn einem alles egal ist, braucht man auch nichts zu tun. Die methode der menschen." In der Schwulen-Bewegung habe er gelernt, schreibt Schernikau: "daß die meisten, mit denen du schwul bist oder demonstrierst, sich selbst im weg stehn mit ihrem wollen: weil sie nicht mehr wolln als ihr wolln. (...) ihr wollen nicht zurückführn und weiter auf die welt. du wirst welt spielen müssen."

Wenn Christa Bürger, deren genau gedachtes, in Zeiten von neuen Debatten um Politik und Literatur höchst aktuelles Buch "Mein Weg durch die Literaturwissenschaft" gerade im Wallstein Verlag neu aufgelegt wurde, am Beispiel schreibender Frauen über eine Ästhetik nachdenkt, die sich jenseits des Kanons in der Formlosigkeit entwickeln musste, kann man in Hinblick auf Ronald M. Schernikau fragen, in welche Sprache seine Erfahrungen staatlicher und gesellschaftlicher Gewalt führten. Eine Antwort wäre die offensive Automatensprache als Versuch, die Dialektik von Beschreibung und Gegenbeschreibung zu unterlaufen: "es regnet, wasser fällt von oben. Sehr großer regen macht die häuser naß und die menschen, die nicht in ihnen sind."

Beeinflusst wurde Schnernikau von den Beatniks, der dokumentarischen Literatur und Brechts Verständnis von politischem Schreiben. Schernikau selbst nennt als Wahlverwandte: Peter Hacks, Irmtraud Morgner, Gisela Elsner, Erika Runge. Antipoden, wenn auch respektierte und zitierte, sind Christa Wolf, Volker Braun, Heiner Müller. Solche im Westen bis 1990 gut ankommende "ddr-Schriftsteller", die "immer so kritisch und wahrheitig" tun, stehen bei Schernikau unter Affirmationsverdacht. Sie glauben in seinen Augen nicht an die Veränderbarkeit der Welt. Nach dem Motto: "wer die welt beim namen nennt, braucht sie nicht mehr zu ändern". Widerstand in Schernikaus Sinn bedeutet dagegen: Ende des Gesprächs. Die ästhetische Konsequenz: sich "übers leben erheben, übers material". In der Haltung heißt das, sich weder mit Prometheus noch den Göttern zu solidarisieren, sondern mit dem Adler, wie Schernikau es in seinem Prometheus-Gedicht tut. Das ist dann doch der "dritte Weg". 1990 sprach Schernikau auf dem letzten Schriftstellerkongress der DDR und sagte: "Das Einzige, das mich interessiert bei der Arbeit, ist: Etwas loben können. Ich hasse Negation."

So ganz hält er sich an all diese Dogmen nicht. Selbstverständlich beschreibt er die gesellschaftliche Situation der Achtzigerjahre, die Berufsverbote, die Wohnungsnot, die miese Asylpolitik. Den Zynismus der Sozialdemokraten, das Gesundheitssystem. Alles unverändert aktuelle gesellschaftliche und politische Schieflagen, als hätte sich nichts getan. Er ist außerdem einer der wenigen Autoren, die wirklich von der Situation der Frauen schreiben: von der ganz normalen Gewalt in deutschen Haushalten, auch von Menstruationsproblemen. Er denkt kritisch über Transsexualität nach, über den männlichen Körper und die Notwendigkeit, über Sex zu schreiben, also über Begehren und auch die Utopie der Polyamorie und die Erkenntnis, dass die Liebe längst organisiert ist, "in ausschließlichkeit, in notwehr und zweisamkeit." Er schreibt darüber was sie bedeuten, diese scheinbar individuellen Umstände - "Gedöns" -, die eine Existenz prägen, darüber, wie Politik und Gesellschaft die Körper nutzen, um den Einzelnen fertig, also handlungsunfähig zu machen.

Das alles ist überaus beeindruckend, vor allem, wenn man bedenkt, wie jung dieser Autor war. Enttäuschend und dann doch vielleicht auch auf eine gewisse Jugendlichkeit und den Jargon der Zeit zurückzuführen sind die vereinfachenden politischen Parolen: "übrigens ist der rohstoff billig. Auch haben die neger keine maschinen, also kein wunder daß die neger unsere sprache sprechen und nicht wir ihre." Interessant ist, wie solche Sätze in ihrer auf Effekt setzenden Rücksichtslosigkeit heute allein dadurch überführt werden, dass rassistische Begriffe vollkommen unreflektiert in dieser linken Figurenrede verwendet werden. Das ist Ende der Achtzigerjahre nicht mehr zu entschuldigen, sondern zeigt eine Selbstgefälligkeit, die auch nicht durch Ironie-Behauptungen zu retten ist. Man fragt sich da schon, wie ein Schernikau heute reden würde.

Gut wäre gewesen, wenn die Herausgeber solche Konstellationen noch deutlicher bewertet und eingeordnet hätten. Neben vielen ausgesprochen hilfreichen Kommentaren zeugen Fußnoten wie die folgende eher von unfreiwilliger Komik: "Samuel Beckett: Warten auf Godot (En attendant Godot, 1952), absurdes Drama, das vergebliches Warten zum Thema hat." Der Kommentar, der selbst einräumt, von der Verweisdichte überfordert zu sein, erzählt von zweierlei: einer Verunsicherung, welches Wissen und welche Komplexitätstoleranz man noch voraussetzen kann. Vor allem aber wirkt er manchmal unsicher, wie Schernikaus literarische Qualität zu bewerten ist. Hat ein Text wie "Legende" noch mehr zu bieten, als Dokument einer spezifischen politischen, gesellschaftlichen und ästhetischen Situation zu sein?

Diese Unsicherheit fällt besonders auf, wenn man parallel den in allen editorischen Details makellosen ersten Band der Werkausgabe von Adolf Endler liest, der eine Generation vor Schernikau aus dem Westen in die DDR ging und über dessen Bücher seine Mutter im Interview sagte: "Alles, was er schreibt, ist heute noch ein Sich-wehren. (...) Andere mögen ja darüber lachen, ich finde da immer eine Bitterkeit drin." An einer Stelle wird Endler dort so zitiert: "Ich opponiere indessen gegen diese ständige zur Erstarrung und Abtötung des Lebens strebende Welt." Das wäre doch auch ein Satz gewesen, den Schernikau hätte sagen können, oder? Er findet aber nicht wie Endler in ein "Grillengrasgebell", sondern holt Sichel und Fanfaren raus und gerät immer wieder an den Rand einer zu "Erstarrung und Abtötung" neigenden Literatur. Liegt das daran, dass Schernikau seinerseits vielleicht weniger an die Wirkmacht der Literatur glaubte, als er zugab? Endler hingegen: "Ich bin das Sandkorn, Bruder, zu dir auf Wanderschaft / Rund um den ganzen Erdball und nicht die kleinste Kraft!"

Ronald M. Schernikau : L egende. Hrsg. v. Lucas Mielke, Helen Thein und Thomas Keck. Verbrecher Verlag, Berlin 2019. 1072 Seiten, 58 Euro.

© SZ vom 05.02.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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