Süddeutsche Zeitung

Nachruf auf Lee "Scratch" Perry:Geistererscheinung

Lee Perry, Reggae-Pionier, Dub-Erfinder, quartals-wahnsinniger Donnergott, Regenmacher und Sonnenkönig ist gestorben. Erzählt man sich.

Von Jakob Biazza

Großer Unfug natürlich, jetzt zu behaupten, Lee Perry sei gestorben. Geister sterben ja nicht. Wenn sie diese Welt überhaupt verlassen, nehmen sie einen noch flüchtigeren Aggregatszustand an, zerstäuben und verteilen sich endgültig in die letzten Poren dieser Welt. Lee Perry, genannt "Scratch", Reggae-Pionier, Dub-Erfinder, Geistererscheinung eines jeden, der es mit dem Spirituellen einmal einen Tick zu ernst genommen hat, und Superlativ-Was-auch-immer jedweder Musik, die jemals in die Nähe eines Off-Beats gekommen ist, hat sich also endgültig in die Welt verteilt. Erzählt man sich.

Wobei man vorsichtig sein sollte mit den Geschichten. Man erzählt sich ja seit jeher so viel über den Mann, der womöglich irgendwann Ende März 1936, genauer weiß man es nicht, natürlich nicht, als Rainford Hugh Perry geboren worden ist. Die wildesten Mythen, von denen garantiert nur die Hälfte wahr ist, und zwar, weil die Wahrheit noch viel abgedrehter ist, als man sich das mit einem Gehirn aus dieser materiellen Welt ausdenken kann, umranken ihn ja seit jeher. Viele stammen selbstverständlich von ihm selbst. Lee Perry, Donnergott, Regenmacher, Sonnenkönig, großer Geschichtenerzähler.

Erst prägte er den Sound von Bob Marley, Max Romeo, Junior Murvin - dann blies er den Sound endgültig ins All

Gleich am Anfang der Karriere sollen die Steine mit ihm kommuniziert haben. Sagt er. Die Steine hätten ihm eingeflüstert, vom jamaikanischen Kendal nach Kingston (sprich "King's Stone, sprich der Sohn des Königs - diese Flughöhe, schon damals) zu ziehen. Dort heuerte er im Studio One von Clement Seymour "Sir Coxsone" Dodd an. Großer Mann auf der Insel damals. Prägender Produzent. Perry hörte, sah, fühlte und absorbierte also, was der Lehrer tat, erschuf mit ihm mehr als 30 Songs, übertraf ihn und überwarf sich mit ihm. Verfluchte ihn, buchstäblich, zog weiter, kurzeitig zu Joe Gibbs. Mit dem wiederholte sich das Spiel.

1973 gründete Perry dann, endlich, einen Geist hältst du ja nicht ewig in fremden Häusern, sein eigenes Studio. Black Ark, im Garten seines Hauses. Sagenumwoben, natürlich. Der Rocksteady war, auch unter der Regie Perrys, ein paar Jahre zuvor zum deutlich langsameren und damit ungleich härteren, bedrohlicheren Reggae heruntergebremst worden. Perry hatte den Klang von Bob-Marley-Klassikern wie "My Cup" oder "Keep on Moving" geprägt. Max Romeos "I Chase The Devil" oder Junior Murvins "Police And Thieves" entstand kurz darauf. Genre-Klassiker allesamt. Und jetzt schickte er sich an, die Musik endgültig ins All zu blasen.

Er verstand sein Mischpult spätestens seit dieser Zeit als Musikinstrument, und die Halleffekte, mit denen er den Dub erschuf und auf ewig prägte, als spirituelle Ausdrucksform. Transzendenz durch Musik. The Prodigy, die Beastie Boys, ach, eigentlich jeder mit Geschmack, sampelten Stücke von ihm. Diesen wundervoll verzogenen, krähenhaft gesungenen, unendlich groovenden Wahnsinns-Sound, lange gespielt von den Upsetters, seiner irre guten Studioband. Schon so etwas wie Reggae. Aber wer sich darunter jetzt karibischen Bacardi-Breezer-Sonnen-Ticki-Tacka vorstellt, ist ungefähr so nah dran, wie Perry es zu dieser Zeit noch am Erdboden war.

Ende der Siebziger betete Perry in seinem Garten Bananenstauden an und vertilgte Münzgeld

Irgendwo dort oben im All ließ er jedenfalls zwischendurch seinen Verstand zurück. Er fing an, den Rauch seiner Joints in das Studioequipment zu blasen, um einen dreckigeren Klang zu bekommen. Zeitweilig soll er dem Voodoo verfallen sein. Ende der Siebziger, so erzählen Zeitgenossen sich das zumindest, betete der einst so umtriebige Mann in seinem Garten Bananenstauden an, trank die Reinigungsflüssigkeit seiner Aufnahmebänder und vertilgte dazu Münzgeld.

Ende der Siebziger brannte das Black-Ark-Studio schließlich ab. Perry behauptete bis zuletzt, er selbst habe es angezündet, entweder, um den Satan auszutreiben, oder in einer Art Raserei gegen sich selbst - was zu dieser Zeit vermutlich ungefähr dasselbe war. Offiziell gilt ein Kurzschluss als Ursache, was natürlich möglich ist. Andererseits: 2015, Perry lebte inzwischen verheiratet, seelenruhiger und wieder mit größeren Teilen seines Verstandes vereint, in der Schweiz, brannte sein dort gebautes "Secret Laboratory" ebenfalls ab.

Bis dahin stetig genutzt übrigens. Er hat ja nie aufgehört, Musik zu produzieren und aufzutreten. In ein paar Monaten sollte noch ein neues Album erscheinen: "Lee 'Scratch' Perry's Guide to the Universe". Einen Song daraus kann man schon hören. "Life Is An Experiment" heißt er. Am Sonntag soll Lee Perry das Experiment namens Leben mit 85 Jahren beendet haben. Behaupten die Zeitgenossen mal wieder.

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