Süddeutsche Zeitung

Lebenswerk:Den Raum erfassen

Eduardo Chillida hat als Bildhauer wegweisende Arbeit geleistet: In den oft monumentalen Skulpturen des Spaniers wachsen das Innere und das Äußere zu einer untrennbaren Einheit zusammen.

Von Gottfried Knapp

Der große spanisch-baskische Bildhauer Eduardo Chillida hat mit seinem Werk eine einzigartige Position in der Geschichte der modernen Plastik erobert. Denn anders als seine im 20. Jahrhundert tätigen Bildhauer-Kollegen, die ausschließlich im plastischen Volumen ihrer Skulpturen nach Ausdruck suchten, hat er auch den von der Skulptur umschlossenen Hohlraum als künstlerischen Kontrapunkt in seine Überlegungen einbezogen. Ja, er hat das Spiel zwischen umgreifenden und umgriffenen Formen als bildnerische Herausforderung entdeckt und mit nie nachlassender Intensität variiert und weiterentwickelt. So wurde für ihn das Hineinschneiden in plastische Gebilde, also das gezielte Herausnehmen von Volumen, zu einer der Haupttätigkeiten während des Schöpfungsprozesses.

Sehr schön lässt sich das an Chillidas Papierarbeiten verfolgen. Viele dieser Bildwerke bestehen einfach nur aus leeren Papierbögen, in die Chillida rechteckige Formen hineingeschnitten hat. Wenn er diese geometrisch durchlöcherten Blätter locker aufeinanderlegte, warfen ihre Ränder schmale Schattenlinien auf die darunterliegenden Bögen und deren Formen. Die an der Wand übereinanderhängenden Papiere suggerieren also eine Tiefe, eine Dreidimensionalität, die durchaus plastisch empfunden werden kann.

Bei anderen Papierarbeiten ergänzte Chillida die Lochformen durch aufgemalte Schwarzformen, die sich von der weißen Papieroberfläche in den Raum zu erheben schienen, also das abstrakte Spiel mit der Dreidimensionalität auf ihre Weise intensivierten. Emanzipieren sich diese aufgemalten Urformen zu längeren Balken, dann können sie ihrerseits Liniengerüste auf das Papier setzen, die als für sich stehende grafische Individuen gedeutet werden können, aber genauso auch als pure Umrandungen der eigentlich ins Licht zu hebenden Binnenformen. Dunkle Balken und helle Flächen bekommen also so viel Eigengewicht, dass nicht mehr entschieden werden kann, wer den Rahmen und wer den Inhalt für das andere Element bildet. Beide Bestandteile sind exakt gleichwertig. Oder in den Kategorien der Dreidimensionalität ausgedrückt: Die umschlossene Hohlform hat die gleiche Bedeutung für das Bildwerk wie die vollplastischen Teile.

Mit dieser grundsätzlichen Erkenntnis können wir direkt zum skulpturalen Werk von Eduardo Chillida hinüberschwenken. Schon in den vergleichsweise konventionellen ersten abstrakten Arbeiten aus den Fünfzigern ist der Wille, Raum einzufangen, deutlich zu spüren. Die aus Eisenstangen zusammengeschmiedeten kurvig-weichen oder zackigen Gebilde zeichnen expressive Formen in den Raum, wie sie damals auch von anderen Bildhauern geschaffen worden sind. Doch fast immer tut sich zwischen den gestisch ausgreifenden Elementen ein Raum auf, der sehr viel deutlicher als bei den Kollegen mit Kraft aufgeladen ist, also zum eigentlichen Energiezentrum wird.

Mit Holz, Stein, Schamotte oder Beton, vor allem aber mit Stahl erprobte Chillida all die Ausdrucksformen, die vollplastische Körper in Gemeinschaft mit den in sie hineinkomponierten Hohlräumen zu entwickeln vermögen. So wie in seinen Grafiken schwarze Felder die weiße Fläche aufteilen und Innen- und Außenräume suggerieren, so bewegen sich in den Plastiken die Balken und Scheiben zunächst frei rhythmisch im Raum, doch bald schon ergehen sie sich in stereometrisch genau festgelegten Formen, in Geraden, rechtwinkligen Abzweigungen und an den Enden oft in präzise austarierten Kreisformen, die jeweils ein weiteres Stück Raum umzirkeln und in die Komposition einbeziehen.

Es gibt bei ihm mächtige Stahlwände, in die einfach Öffnungen geschnitten sind

Beim Stahl übernehmen Schmiedehämmer und Pressen die fast gewalttätige Arbeit des Formens, Stauchens und Drehens. Immer wieder lässt Chillida glühende Stahlkörper aber auch aufsägen, um Hohlräume als Gegengewichte zu bekommen oder die herausgetrennten Teile in bestimmte Richtungen zu biegen und gestisch wirkungsvoll nach außen zu drehen. So gibt es bei ihm mächtige Stahlwände, in die einfach nur rechtwinklige oder runde Öffnungen hineingeschnitten sind. In die Leerräume können Balken, die quasi die Fläche der Wand linear fortsetzen, wie Zeichen hineingreifen. Das dreidimensionale Gebilde entsteht hier also nicht, wie bei den meisten Bildhauerkollegen der Moderne, durch ein Zurechtkneten, -hämmern, -stauchen oder -kleben von bekannten Materialien, sondern, wie bei Chillidas Papierschnitten, ausschließlich durch das Herausschneiden von Formen aus einem vorgegebenen Zusammenhang, aus einer übernommenen Fläche.

Ein anderer Typus der aufgeschnittenen Skulptur ist quasi zum Markenzeichen von Chillida geworden. Immer wieder hat er mächtige Stahlstelen an ihrem oberen Ende der Länge nach in vier gleiche Teile aufschlitzen und dann die aus dem Stamm herausgedrehten Äste individuell in den Freiraum ausgreifen lassen. Bei einigen dieser Plastiken schlingen sich die vier Äste wie Greifarme eines Kraken umeinander. Andere Stelen sehen aus wie Pfeiler, die mit ihren herausgebogenen Armen mächtige Gewölbe tragen. Am einprägsamsten sind aber die Formationen, bei denen die vier Elemente im Raum weit ausholen, um sich dann wie die Finger einer Hand zu einer machtvollen Greifgeste zusammenzuschließen.

Die berühmtesten dieser in den Raum greifenden Stahlplastiken sind die drei "Kämme des Windes", die Chillida in seiner Heimatstadt San Sebastián am Ende der weit ausladenden Bucht direkt über der Brandung auf die Klippen montiert hat. Einer der Windkämme, der am weitesten entfernte, steht senkrecht auf dem Felsen; er sieht aus, als woll er mit seinen hochgereckten Fingern den Himmel greifen. Bei den beiden anderen, die aufeinander Bezug nehmen, ragen die Stämme waagerecht aus den Felsen heraus. Bei ihnen ist aus der nach oben gerichteten Empfangsgeste eine fast dramatisch wirksame Greifgeste geworden. Die abstrakte Skulptur wird also zum Kamm, der Wind und Wasser aus der Luft herauskämmt und wie eine Stimmgabel auf die Natur reagiert, zur zupackenden Hand, die in ihrer Höhlung die anbrandenden Elemente auffängt.

Für den Vorgarten des Bundeskanzleramts in Berlin hat Chillida zwei solcher monumentalen Greifhände aus Cortenstahl - sie stehen für die ehemals getrennten Teile Deutschlands - so einander zugeordnet, dass man die Funken, die zwischen ihren ausgestreckten Fingern hin- und herzuspringen scheinen, zu sehen glaubt.

Im Hof des Rathauses von Münster hat Chillida mit zwei am Boden liegenden, aufeinander zukomponierten Stahlelementen dem Westfälischen Frieden, dem Ende des Jahrzehnte dauernden, grauenhaften Konfessionskrieges, ein sprechendes Denkmal gesetzt. Mit der deutschen Kultur hat sich Chillida lebenslang intensiv verbunden gefühlt. Seine großen Denkmäler für Bach, Goethe, Novalis oder Heidegger gehören zum Besten, was in Deutschland im öffentlichen Raum aufgestellt wurde. Die große Ausstellung im Museum Wiesbaden bietet nun endlich die Möglichkeit, Chillidas vielseitiges Werk in all seinen Aspekten kennenzulernen.

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Quelle:
SZ vom 16.11.2018
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