Süddeutsche Zeitung

Leben wie kurz vor dem Tod:"Mir ist nichts mehr peinlich"

Eine Bahncard anschaffen, durch Deutschland reisen, eine Osteuropasafari, im Wald leben, mit der Tochter einen Schatz vergraben, einen Hit produzieren, Drogenexperimente, Sport: Das sind einige der 33 Punkte, die Erik Niedling auf die To-do-Liste für sein letztes Jahr setzte. Der aus Erfurt stammende Künstler lebte ein Jahr so, als sei es sein letztes. Die Ergebnisse sind zurzeit in einer Ausstellung in Berlin zu sehen. Im Interview erzählt er, was ihn angetrieben hat.

Von Ruth Schneeberger, Berlin

SZ.de: Herr Niedling, warum dieser Schritt?

Erik Niedling: Da muss ich ein bisschen ausholen. Ich komme eigentlich von der Fotografie und als ich aus Erfurt nach Berlin kam, habe ich gemerkt, dass ich meine Kunst nicht mehr über dieses Medium alleine denken will. Um mich neu zu orientieren, habe ich zusammen mit dem Schriftsteller Ingo Niermann internationale Sammler, Kuratoren und Kollegen aus dem Kunstbetrieb gefragt, wohin die Reise geht mit der Kunst. Daraus ist ein Film entstanden. Und Ingo Niermann hat mir seine Idee überlassen, eine Pyramide zu errichten.

Sie möchten eine Pyramide errichten?

Die Pyramide soll 200 Meter hoch sein und aus einem existierenden Berg herausgeschlagen werden. Wenn der Besitzer der Pyramide stirbt, also ich, wird ein Grab in die Pyramide eingelassen. Die Kunst, an der ich gerade arbeite, und die zum Teil schon in der Ausstellung zu sehen ist, wird meine Grabbeigabe sein. Danach soll die Pyramide wieder verschwinden und der Berg wieder zum Berg werden. Spätere Menschen werden vielleicht darüber rätseln, ob unter dem Berg wirklich eine Pyramide versteckt ist.

Aber Sie sind noch nicht tot. Warum haben Sie ein Jahr lang so gelebt, als wäre es Ihr letztes?

Ich wurde gefragt, wann es denn jetzt losgehe mit der Pyramide. Aber für so ein Projekt nimmt man ja nicht die Schaufel in die Hand und legt los. Irgendwann erzählte mir Niermann von einem Spiel, das er mal für ein Magazin entworfen hatte: so zu leben, als wäre es das letzte Jahr. Da hat es sofort bei mir geklingelt, und ich wusste, das muss ich machen.

Sie haben das gemacht, um sich vor Prokrastination zu schützen? Damit Sie Ihr Kunstprojekt nicht aufschieben?

Ja, und um sicherzugehen, dass ich mich dabei nicht selbst betrüge, habe ich mich hypnotisiert.

Sie haben sich selbst in Hypnose versetzt?

Ja. Haben Sie schon Erfahrungen mit Hypnose gemacht?

Überhaupt nicht.

Ich dachte früher auch, das sei Scharlatanerie. Man kennt das ja aus dem Fernsehen, dass jemand denkt, er sei ein Huhn. Aber dann habe ich gelernt, dass Selbsthypnose eher eine Art starkes autogenes Training ist. Immer, wenn ich an Grenzen kam, habe ich mir dieses Bild vor Augen gerufen: Dass mit dem Ablauf des Jahres ein Vorhang fällt und nur noch weißes Rauschen zu sehen ist, wie früher nachts im Fernsehen.

Und das hat funktioniert?

Absolut. Mit gedanklicher Anstrengung hätte ich natürlich auch über dieses Datum hinaus denken können. Aber durch diese Verinnerlichung habe ich dafür gesorgt, dass das überhaupt nicht mein Ziel war.

An welche Grenzen sind Sie in diesem Jahr gestoßen?

Das fing sofort an. Ich habe vorher natürlich meine Frau gefragt, ob sie damit einverstanden ist. Weil sie das gewohnt war, dass ich als Künstler immer wieder Projekte habe und durch die Weltgeschichte reise, hat sie zugestimmt. Kurz darauf hat sie ihren Urlaubsplan fürs kommende Jahr erhalten und wollte mit mir den Urlaub planen. Da musste ich sagen: Das geht leider nicht.

Weil Sie dann tot sind.

Nein, es ging explizit nie darum, dass ich danach tot wäre, aber ich konnte über diesen Punkt hinaus nicht planen. Es gab viele Probleme mit Menschen aus meinem Umfeld, die natürlich alle nicht darauf gewartet hatten, dass ich jetzt sowas mache, es sind auch einige Freundschaften zerbrochen, weil das einfach nicht jeder nachvollziehen konnte. Aber ich habe mein gesamtes Umfeld mit einbezogen, familiär und beruflich - nur meine Tochter Rosa nicht, die war mit fünf Jahren noch zu klein.

Was war die absurdeste Reaktion?

Es gab viele lustige Situationen, zum Beispiel Versicherungsvertreter, die mich angerufen haben. Als ich ihnen erklärt habe, warum ich keine Lebensversicherung mehr brauche, haben die sofort umgeschwenkt und wollten mir eine verkürzte Laufzeit anbieten.

Wie sah Ihr Tagesablauf in diesem Jahr aus?

Ich bin sowieso jemand, der viel Wert auf Methodik legt, weshalb ich sonst auch von sieben bis elf Uhr administrative Aufgaben erledige. Das habe ich beibehalten, aber das Arbeitspensum ist erheblich gestiegen. Weil ich neben den Punkten auf der Liste noch meine Ausstellung vorbereiten musste, die dann sozusagen posthum stattgefunden hat. Am letzten Tag musste ich haargenau alles vorbereitet haben, sodass ich danach keinen Finger mehr krümmen muss. Dazu mussten nicht nur die Kunstwerke fertig werden, sondern auch die gesamte Logistik, und eventuelle Kommunikationsprobleme vorher mitgedacht werden, damit bloß nichts schief geht. Gottseidank hat zum Schluss alles geklappt.

Was hätte denn schiefgehen können?

Das war verrückt, am allerletzten Tag auf Malta, da hatte ich das Jahr begonnen und auch beendet, weil ich fand, dass eine Insel gut zu dem Projekt passt, sitze ich im Taxi zum Flughafen und plötzlich läuft ein Hund quer über die Straße. Der Taxifahrer hat ihn sogar noch kurz gestreift. Das wäre natürlich extrem gewesen und hätte keiner geglaubt, dass das nicht inszeniert war, wenn ich an diesem letzten Tag wirklich gestorben wäre, bei einem Unfall. Ich bin froh, dass ich die letzten Minuten gefilmt habe, sonst hätte man mir auch nicht geglaubt, was dann noch passiert ist: Ich spreche meine Abschiedsworte, zähle die Sekunden runter bis zur Deadline - und punkt Mitternacht gibt es einen Riesenschlag und alles wird dunkel. Da war einfach der Strom ausgefallen. Ich habe mich ziemlich erschreckt. Dann habe ich das rote Blinken der Kamera gesehen und gewusst: Alles ist gut.

Was haben Sie in diesem Jahr gelernt?

Zum Beispiel, dass ich Sport treiben muss, um auch fit zu bleiben und besonderen Herausforderungen wie diesen trotzen kann. Ich habe früher immer lieber gelesen und gedacht, für Sport hätte ich keine Zeit. Jetzt weiß ich, dass man sich die Zeit nehmen und richtig priorisieren muss. Ich habe zu vielen Dingen eine neue Haltung entwickelt.

Viele haben gefragt, ob das nicht alles zu selbstreferentiell sei. Aber das ist doch gerade das große Thema heute: Selfies, Facebook - die Gesellschaft ist stark von Egoismus geprägt. Das sieht man auch jetzt wieder in Dresden, bei Pegida. Eigene Unzulänglichkeiten werden weggeschwiegen, darüber wird hinweggeguckt, und das Problem immer bei den anderen gesucht. Ich sage: Bring deinen eigenen Laden erst mal in Ordnung.

Warum fehlt uns diese Art von positivem Egoismus?

Wir sind abgelenkt, vor allem durch Ängste. Denen muss man sich stellen. Eine Urangst ist die Angst vor dem eigenen Tod, eine andere die vor sozialem Abstieg. Ich habe eben dem Tod ins Auge geblickt - soweit das ging. Mir waren aber die Schwierigkeiten in der Betrachtungsebene bewusst, deshalb habe ich Krebsstationen besucht und mit Leuten gesprochen, die tatsächlich nur noch drei Monate zu leben hatten. Was für mich nur eine These war, war für sie gesetzt.

Was hielten die von ihrem Projekt?

Die fanden das gut. Ihre Verwandten eher nicht, da war es manchmal schwierig, die Distanz zu überwinden, vor allem auch noch im Rahmen eines künstlerischen Projekts. Die Kranken selbst sagten: Ich habe gar nicht die Möglichkeit, diese ganzen Dinge zu machen, die ich mir noch vorgenommen hatte, weil ich jeden Tag damit beschäftigt bin, noch einen Tag mehr rauszuschinden, noch eine Therapie mehr zu machen. Diese Zeit nützt mir gar nichts, weil ich in der Zeit nichts machen kann. Weil ich nur im Krankenhaus liege, mit Ärzten zu tun habe, nur schwach bin. Ich dagegen habe ja nicht versucht, das Datum hinauszuzögern, mehr Zeit zu bekommen, sondern eben die Zeit, die da war, effektiv zu nutzen.

Und das ja im besten Alter, unter Vollbesitz Ihrer geistigen Fähigkeiten.

Jemand der krank wird, hatte ja in den meisten Fällen auch mal diese Zeit, in der das noch möglich war, und merkt dann: Diese Zeit habe ich gar nicht richtig genutzt. Ich selbst habe mich bestimmt auch viel um falsche Sachen gekümmert, und auch Fehler gemacht, aber in diesem Jahr wollte ich wirklich durchs Stahlbad gehen. Das hat viele Kräfte freigesetzt, auch in der sozialen Interaktion. Es hat die Beziehung zu meiner Frau etwa auf eine ganz neue Ebene gehoben.

Weil sie mehr reflektiert haben?

Viel mehr reflektiert. Ich habe mich zum Beispiel vorher schon fast für einen Feministen gehalten, weiß aber jetzt, dass das nur Attitüde war. Um sich wirklich in die Perspektive des anderen hineinversetzen zu können, muss man lernen, loszulassen. Sämtliche männliche Attitüden, Macho-Allüren, die mir selbst gar nicht so bewusst waren, sind weggespült worden. Ich habe in der Zeit meine zarte, meine weibliche Seite kennengelernt. Ich bin über ein paar Hürden gesprungen, wo mir vorher das Ego und die Öffentlichkeit im Weg standen. Mir ist nichts mehr peinlich. Ich habe zum Beispiel ein Lied gesungen. Das hätte ich vorher niemals gemacht, weil ich gar nicht singen kann. Aber da ich mir vorgenommen hatte, einen Hit herauszubringen, und das nicht geklappt hat, habe ich zumindest ein Lied auf YouTube gestellt, um meiner Frau zu zeigen, wie sehr ich ihr danke, dass sie das alles mitgetragen hat.

Welcher Ihrer Pläne hat noch nicht geklappt?

Ich war zum Beispiel auch nicht jagen. Ich hatte mir das vorgenommen, weil ich finde, dass, wer Fleisch isst, auch dazu in der Lage sein sollte, selbst ein Tier zu erlegen. Stattdessen habe ich dann ein Hotel eröffnet. Beziehungsweise in einer Pension ein Zimmer eingerichtet im Sinne des Projektes, das kann man heute noch buchen für 15 Euro die Nacht, und sich mit dem Thema Vergänglichkeit und Egoismus auseinandersetzen. Das Problem war insgesamt, dass ich so viele Dinge umsetzen musste.

Was war so aufwändig?

Zum Beispiel habe ich mich auch noch von Ingo Niermann über mein Leben interviewen lassen, zwei Wochen lang. Das dann alles zu transkribieren und zu formatieren, war eine Monsterarbeit. Außerdem habe ich Tagebuch geführt, und weil ein Buch daraus entstehen sollte, sollte es einen literarischen Twist haben. Ich war aber Schreiben überhaupt nicht gewöhnt. Dann musste das alles vor der Deadline in Druck gegeben werden, ich musste also gleichzeitig die ersten Teile gegenlesen und teils schon die Übersetzung ins Englische abnehmen, während ich gleichzeitig noch daran schrieb. Ich habe außerdem meiner Tochter eine Bibliothek eingerichtet, mit 100 Büchern, die sie gelesen haben sollte, bis sie 30 ist, von Märchen bis zu Susan Sontag. Weil ich ja davon ausgehen musste, dass ich nicht mehr da bin, wenn sie lesen lernt. Darauf wäre ich sonst nie gekommen.

Außerdem hatte ich noch viel stärker als sonst mit finanziellem Druck zu kämpfen. Als Künstler hat man das sowieso, bis auf ganz wenige Ausnahmen. Aber die Dinge, die ich in diesem Jahr erleben wollte, die vielen Reisen ins Ausland, natürlich auch nach Ägypten, wo ich während der Aufstände war, haben ja auch was gekostet. Zwischendurch war ich kurz davor, komplett insolvent zu gehen. Wenn nicht meine Sammler in letzter Sekunde ein neues Projekt finanziert hätten, hätte ich meine Miete nicht mehr zahlen können. Dann wäre ich am nächsten Tag Briefe sortieren gegangen. Das hat aber auch dazu geführt, dass ich mir jetzt für keine Arbeit mehr zu schade wäre.

Sie sind also gestärkt aus diesem Jahr mit seinen Herausforderungen und Krisen hervorgegangen?

Gestärkt ist genau das Wort. Ich kann es nur empfehlen.

Was würden Sie anderen raten, die das ausprobieren wollen?

Sie sollten eine Vorbereitungszeit von einem Vierteljahr einplanen - und auf keinen Fall nebenher noch eine Ausstellung organisieren.

Die Ausstellung "Eine Pyramide für mich" von Erik Niedling läuft noch bis zum 18. Januar im Haus am Lützowplatz in Berlin. Am 15. Januar gibt es dort die Möglichkeit, "Pyramiden-Dollar" zu erwerben für das Projekt Pyramidenbau.

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