Süddeutsche Zeitung

Leben neben dem KZ:Eine deutsche Stadt

Im Jahr 1943 galt Auschwitz als gute Adresse: Hier gab es Arbeit bei der IG Farben, keine Luftangriffe - nur ein paar Gerüchte.

Von Sybille Steinbacher

Die SS-Wachen von Auschwitz nannten das Lokal gegenüber dem Bahnhof ihr "Haus der Waffen-SS". Vom Lager war es nicht weit entfernt, Zutritt hatten nur Deutsche, und die Arbeit mussten weibliche Häftlinge der Zeugen Jehovas verrichten.

Dass Heinrich Himmler hier abgestiegen ist, als er Auschwitz im März 1941 und im Juli 1942 besuchte, ist nicht überliefert. Sehr wohl jedoch, dass der Reichsführer SS alle Vorbereitungen treffen ließ, um im Sommer 1943 ins Obergeschoss des Hauses zu ziehen.

Doch daraus wurde nichts, wohl weil die Ereignisse seit dem Aufstand im Warschauer Ghetto den Plan störten. Dass er ausgerechnet in Auschwitz präsent sein wollte, hatte gute Gründe: Das Lager wurde zum Zentrum der "Endlösung der Judenfrage" und die Stadt daneben eine "Musterstadt der deutschen Ostsiedlung".

An keinem anderen Ort im nationalsozialistischen Machtbereich wurden so viele Menschen ermordet wie in Auschwitz. Als Konzentrationslager, Vernichtungslager und Drehscheibe des Zwangsarbeitseinsatzes steht Auschwitz zugleich exemplarisch für die Vielseitigkeit des Lagersystems:

Errichtet im Frühjahr 1940, war das Lager ursprünglich eine Haftstätte für politische Gefangene des polnischen Widerstands. Als außergewöhnlich galt zunächst allein seine Größe: Das Lager wurde auf bis zu 10.000 Häftlinge angelegt -, eine enorme Kapazität, denn bis Kriegsbeginn waren in den sechs Konzentrationslagern im "Altreich" zusammen nicht mehr als 25.000 Menschen inhaftiert.

Zunächst stellten nicht Juden die größte Häftlingsgruppe, vielmehr waren Mitglieder der polnischen Parteien und Organisationen, Angehörige der Intelligenz sowie alle potenziellen Träger nationalpolnischen Widerstands der Verfolgung und Willkür ausgesetzt.

Polnische Phase

Juden kamen anfangs zumeist aus politischen Gründen ins Lager, und ihre Zahl blieb bis etwa Mitte 1942 vergleichsweise gering. Die Häftlinge wurden in dieser so genannten polnischen Phase der Lagergeschichte noch nicht systematisch ermordet, aber sie starben an Hunger, Schikanen und Zwangsarbeit, sie wurden zu Tode geprügelt, erhängt und erschossen.

Ende September 1941 (nicht, wie lange angenommen, schon im März) erging der Baubefehl für das zweite Lager in Auschwitz: Birkenau. Doch es wurde nicht zum Massenlager für bis zu 200.000 sowjetische Kriegsgefangene, wie geplant, sondern vermutlich ab Sommer 1942 zum Ort der systematischen Judenvernichtung.

Der Massenmord war von der Technik der Mordeinrichtungen ebenso abhängig wie von den logistischen Planungen der Funktionäre im Deutschen Reich und in Berlin.

Dass Auschwitz schließlich zum Zentrum der Aktionen wurde, hatte mit den Vorgängen in den anderen Vernichtungslagern in Polen zu tun: In Belzec hörten die Tötungen im Dezember 1942 auf, in Chelmno wurden sie im März 1943 für mehr als ein Jahr ausgesetzt, in Sobibór und Treblinka gaben Aufstandsversuche am 14.August und am 1. Oktober 1943 den Anlass zur Schließung, und in Majdanek ließ die SS Anfang November 1943 die letzte große Mordaktion durchführen.

In Auschwitz wurde der Massenmord hingegen noch bis Ende Oktober 1944 hinein betrieben - und dies, obwohl angesichts der näher rückenden Roten Armee das Lager längst aufgelöst wurde. Mindestens 1,1 Millionen, womöglich aber bis zu 1,5 Millionen Menschen starben im Lager, etwa 90 Prozent von ihnen waren Juden.

Im nebulösen Osten

Auschwitz war jedoch nicht nur der zentrale Schauplatz der Judenvernichtung, sondern auch ein Brennpunkt der Siedlungs- und Germanisierungspolitik. Gerade während der Hochphase des Massenmords wurde die Stadt Auschwitz, die vom Stammlager und vom Lager Birkenau nicht mehr als drei Kilometer entfernt lag, zu einer "deutschen" Stadt.

Noch zu Beginn des Krieges lebte unter den rund 14.000 polnischen Einwohnern, die jeweils etwa zur Hälfte Katholiken und Juden waren, praktisch niemand, der nach "rassischen" Kriterien als deutsch gelten konnte.

Dies erhellt schlagartig die Dimension der ethnografischen Neugestaltung, zu der sich die Besatzer herausgefordert sahen. Mit den Grenzfestsetzungen Ende Oktober 1939 kam Auschwitz zum Deutschen Reich, was bedeutet, dass die Verbrechen im Lagerkomplex keineswegs, wie oftmals suggeriert, im geografisch nebulösen "Osten" begangen worden sind.

Die radikale "Eindeutschung" der Stadt begann mit dem Bau der IG Farben-Werke im Frühjahr 1941. Industriegeleitete Städtebaupolitik setzte ein, und die Stadt, so verkündeten die Manager des Chemie-Giganten, die mit der SS einen einträglichen Handel eingegangen waren, sollte zu einem "Bollwerk des Deutschtums im Osten" werden.

Mehr als 6000 Reichsdeutsche verlegten bis Ende 1943 ihren Wohnsitz nach Auschwitz und bezogen die Häuser der mittlerweile deportierten Polen und Juden. Beamte waren unter ihnen, auch Unternehmer.

Das Gros der neuen Bewohner bildeten jedoch Arbeiter und Angestellte der IG Farben-Werke. Die meisten stammten aus Städten, in denen der Konzern seine Stammwerke unterhielt: Ludwigshafen, Hüls, Leuna und Frankfurt am Main.

Zur Ausbildung nach Auschwitz

Männer wie Frauen zogen nach Auschwitz. Besonders hoch war der Anteil der jungen Leute, die offensichtlich einen Teil ihrer Ausbildung im neuen Werk absolvierten. Die Zahl der Zuziehenden (die nun aus allen Teilen des Reichs, vor allem aus den Großstädten kamen) stieg, als der Luftkrieg im "Altreich" heftiger wurde. Auschwitz blieb von Angriffen lange verschont.

Judenvernichtung und "Lebensraumeroberung" verschmolzen konzeptionell, zeitlich und räumlich miteinander. Das Nebeneinander von "Normalität" und Verbrechen in Auschwitz zeigt, dass deutsch-völkischer Aufbau und Massenmord nicht im Widerspruch zueinander standen, sondern zwischen "Eindeutschungspolitik" und systematischer Vernichtung ein enger ideologischer und organisatorischer Zusammenhang bestand.

Der Umstand, dass der Massenmord vorangetrieben wurde, selbst als Tausende von Deutschen nach Auschwitz zogen, wirft Fragen nach der öffentlichen Wahrnehmung der Verbrechen auf.

Antworten darauf sind nicht leicht zu geben. Während die SS-Führung und das Personal der Reichsbahn, das die Deportationszüge nach Birkenau lenken musste, Detailkenntnisse von den Mordvorgängen besaßen, kursierten unter der zivilen Bevölkerung von Auschwitz Teilinformationen, Gerüchte und Vermutungen.

Gewiss trug latente Angst dazu bei, dass Nachfragen unterblieben. Auch wurden Ahnungen von Alltagssorgen in den Hintergrund gedrängt. Offensichtlich scheint jedoch: Mit dem Geschehen konnte man sich arrangieren.

Die Autorin ist Historikerin an der Ruhr-Universität Bochum. Zuletzt erschien von ihr das Buch "Auschwitz. Geschichte und Nachgeschichte" (Beck Verlag).

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Quelle:
SZ vom 27.1.2005
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