Süddeutsche Zeitung

Lavinia Branişte: "Sonia meldet sich":Stadt des Vergessens

Von der Verdrängung der Ceauşescu-Zeit und den Symptomen, die sie bei den nachfolgenden Generationen hervortreibt, erzählt Lavinia Branişte in ihrem Roman "Sonia meldet sich".

Von Marie Schmidt

"Sonia stellt fest, dass sie über das, was vor ihrer Geburt geschah, gar nichts weiß" ist der schlagende Satz dieses Romans. Wahrscheinlich ist diese Sonia Ende der Achtzigerjahre geboren. Sie arbeitet prekär für einen Radiosender und hat einen Blog "rund um das Thema Zukunft", zu dem man alles sagen kann und nichts. Um Geld zu verdienen, schreibt sie Etiketten für Tiefkühlgemüse. Ihre Informationen hat sie aus dem Internet. Wie jede Frau ihres Alters, eine wie Sonia gibt es überall.

Wenn etwas an der Titelfigur von Lavinia Braniştes Roman "Sonia meldet sich" charakteristisch ist, dann die Stadt, in der sie lebt. In der die Trambahnen in den Schienen rumpeln, der Asphalt zittert und die Hochhäuser aus dem Sozialismus lebensgefährlich baufällig sind. In der es im Sommer klebrig heiß wird und die Wände schimmeln. In der die entscheidenden Orte amerikanische Fast-Food-Ketten sind und hippe Galerien neben Gefängniszellen "aus den früheren Zeiten" liegen, die man inzwischen zu Reklameflächen für Sanitärbedarf gemacht hat. In der also nicht nur Sonia vom Vergessen getrieben wird. Die Stadt modert in den Hinterlassenschaften gewesener Epochen und will nichts davon wissen: Das ist Bukarest. Seine Urbanität, sein nicht mal von Fahrradwegen geschönter Stress, seine leidenschaftslose Hingabe an den Konsumkapitalismus sieht in Büchern und Filmen zur Zeit wie das albtraumhaft Reale der Gegenwart aus.

Man kann sich das auch im Kino anschauen, in dem Film "Bad Luck Banging or Loony Porn", der dieses Jahr den Goldenen Bären der Berlinale bekommen hat. Auch da wird eine Frau vom Vergessen durch Bukarest getrieben, oder vielmehr hätte sie gern, dass das Internet einen Amateurporno von ihr vergisst, den jemand auf Pornhub hochgeladen hat, weshalb sie ihre Stelle als Lehrerin zu verlieren droht. Unter den Bildern liegt die Tonspur auch zum Roman von Lavinia Branişte: der Lärm des gefährlich nah vorbeirasenden Verkehrs, die Presslufthämmer, das Kreischen kämpfender Katzen oder Krähen, die obszönen Beschimpfungen von Passanten, die, weil der Film 2020 gedreht wurde, in ihren Corona-Masken gesichtslos sind.

Die Hauptdarstellerin rennt aus dem Bild, als hätte sie nichts damit zu tun

Der Film und das Buch erzeugen mit je eigenen Mitteln dasselbe flaue Gefühl, einen ästhetischen Schwindel. Im Film des rumänischen Regisseurs Radu Jude dreht die Kamera auf dem Weg der Figur durch die Stadt immer wieder ab, verharrt vor absurden Warenangeboten, an Pflanzen, die aus dem Pflaster brechen, oder auf einem Monster-Truck, aus dem ein ganz kleiner Mann aussteigt und weggeht, während der Motor einfach weiterläuft. Die Hauptdarstellerin rennt aus dem Bild und wieder rein, als hätte sie nicht besonders viel damit zu tun. So eine Teilnahmslosigkeit suggeriert Lavinia Branişte in ihrem Buch mit schmucklos harten Sätzen, die Manuela Klenke aus dem Rumänischen übersetzt hat, mit schnellen Dialogen in Alltagssprache und durch das ruppige Präsens, in dem sie alles wiedergibt.

Sonia, die sich mit einer lauen Liebesbeziehung und undefinierbaren körperlichen Symptomen durchs Leben schleppt, bekommt zu Beginn einen Auftrag. Ein schmieriger Regisseur will ein Drehbuch von ihr über eine Episode aus dem Leben der Familie des rumänischen Diktators Nicolae Ceauşescu. Dessen Tochter Zoia habe, während sie an einem Institut für Mathematik arbeitete, Beziehungen mit Männern gehabt und sei von der Securitate überwacht worden. Als sie mit einem Liebhaber ein Wochenende in die Berge fuhr, habe ihre Mutter Elena das Institut schließen lassen, die Wissenschaftler, die dort arbeiteten, verloren ihre Stelle.

Daraus soll nun ein Kolportage-Filmchen werden, in dem die Spitzel des Geheimdienstes vorkommen als diese "exotischen Charaktere, die phänomenale Sachen taten". Wenn man, gerade aus der deutschsprachigen Literatur etwa von Herta Müller, die Wirkung und Spätfolgen des Securitate-Regimes kennt, kommt einem eine solche muntere Gedankenlosigkeit skandalös vor. Genau diese Gedankenlosigkeit ist Lavinia Braniştes Gegenstand.

Der Roman handelt von den Gründen, aus denen die Schuldfrage nicht gestellt wird

Sonia hat allerdings, obwohl es darauf in der Logik ihres Jobs nicht ankommt, das Gefühl, sich informieren zu müssen über das Rumänien der Ceauşescu-Zeit. Nur bringt sie irgendetwas davon ab, sie "liest immer noch alles Mögliche, außer das, was zum Thema gehört. Es sieht so aus, als würde sie genau das absichtlich umgehen wollen." Ältere Leute, die sie fragt, können sich nicht erinnern oder nur an absurde Details, oder ihre Erinnerung ist von der Verbitterung späterer Jahre korrumpiert.

"Glaubst du, dass wir unseren Eltern gegenüber zu hart sind, wenn wir sie dafür verurteilen, dass sie nichts unternommen, nichts bewegt haben?", fragt Sonia einen Freund. Aber auch daran gleitet der Roman ab, handelt nicht von der Schuldfrage - was habt ihr in der Diktatur oder gegen sie getan? -, sondern von den vielen Gründen, aus denen sie nicht gestellt wird.

Das Einzige, was Sonia und ihre Altersgenossinnen sicher kennen, sind die Fernsehbilder von der Verurteilung und Hinrichtung Ceauşescus und seiner Frau, die zu den Jahrestagen im Dezember wiederholt werden: "Die Bilder eines so brutalen, so verzweifelten Endes, dass es bei den Menschen (...) den Eindruck hinterlassen hat, dass damals eine riesige Schere alle Schnüre durchschnitten habe und am zweiten Tag alle bei Null anfingen, frei und ohne Sünde, dass die von Schuld befreiten Eltern und Großeltern das Schicksal in ihre eigenen Hände genommen und verstanden haben, was ihnen passierte." Dass es diese Stunde null nie gegeben hat, ist Lavinia Branişte wichtig zu sagen: "Die Ceauşescu-Familie ist zu einer Sehenswürdigkeit auf einer Touristenführung geworden, die anderen aber bleiben weiterhin hier."

Auch der Vater ist eine politische Fiktion

Die anderen, das sind die Funktionsträger, die Politiker und die kleinen Spitzel, die weitergemacht haben, zum Teil an denselben Stellen, die sie schon vor der Revolution besetzten. Dieser Roman erzählt aber keine Enthüllungsgeschichte. Die Fehler früherer Generationen anzuprangern, gehört zu den platteren aller möglichen Sprechakte, davor schreckt Branişte zurück. Sie zeigt nicht das Verdrängte, sondern die Verdrängung, die Effekte, die es bis in die Gegenwart hat.

So wie sich auch in Radu Judes Film, der den Untertitel "Skizze eines Heimatfilms" trägt, eine gesichtslose, eher archetypische Gewalt durch die Oberflächen der Gegenwart drückt. Gesichtslos im konkreten Sinn, denn die Eltern, die bei einer Schulversammlung die unanständige Lehrerin mit ihrem Vernichtungswillen bedrängen, werden hinter Hygienemasken zu Typendarstellern der rumänischen Vergangenheit. Damit gewinnt Jude den Corona-Maßnahmen eine ästhetische Funktion ab.

Die Schriftstellerin Lavinia Branişte verschiebt, psychoanalytisch informiert, den Plot im kürzeren zweiten Teil ihres Romans von der Recherche in Sachen Ceauşescu zur Suche nach der eigenen Familie. Der Vater, zu dem Sonia wenig Kontakt hatte, stirbt, und bei dessen Vater auf dem Land sucht sie weiter nach etwas Unausgesprochenem: "denn auch der Vater ist eine politische Fiktion", heißt der Halbsatz, der die Handlungsebenen verknüpft.

Gegen einen zu erfolgreich beseitigten, mutwillig vergessenen Patriarchen kann man nicht kämpfen, könnte man interpretieren. Wenn es nicht so plump wäre, weil diese neuesten rumänischen Erzählungen sich eben gerade einprägen, indem sie enorm deutungsarm wirken. So hart, laut, hyperrealistisch, grotesk sie sind, kreisen sie um eine beeindruckend leere Mitte.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5371986
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ/fxs
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.