"Last Night in Soho" im Kino:Schlaf schön

Last Night in Soho (Film Still)

Anya Taylor-Joy (links) und Thomasin McKenzie in "Last Night in Soho".

(Foto: Parisa Taghizadeh/Universal)

Der Kinofilm "Last Night in Soho" ist ein Nostalgietrip ins London der Swinging Sixties - und ein Thriller über Träume, die zu Albträumen werden.

Von David Steinitz

Ach, London, sagt der Taxifahrer. "London kann manchmal ein bisschen viel sein." Dann grinst er seine junge Passagierin im Rückspiegel an und tastet sie mit einem lüsternen Blick ab, der in einer idealen Welt unters Sexualstrafrecht fallen müsste.

Eloise (Thomasin McKenzie) kommt zu Beginn des Kinofilms "Last Night in Soho" vom Land in die Großstadt, um an der Kunsthochschule Modedesign zu studieren - ihr großer Traum. Aber London ist anders, als sie sich das in ihren Träumen vorgestellt hat. Das liegt natürlich ein bisschen an Leuten wie dem ekligen Taxifahrer oder ihrer intriganten Mitbewohnerin im Studentenwohnheim, die sich der Teufel an einem besonders fidelen Tag ausgedacht haben muss. Es liegt aber vor allem an einem Zustand, an dem jeder sympathische Mensch letztlich täglich verzweifelt: der Gegenwart.

Eloise ist ein fanatischer Fan der Swinging Sixties. Wenn sie sich unbeobachtet fühlt, bastelt sie sich Sechzigerjahrekleider aus Zeitungspapier und posiert mit Zigarettenspitze unter einem Poster von Audrey Hepburn, während Peter & Gordon oder Dusty Springfield auf dem Plattenspieler rotieren. Mit dieser verführerisch verrauchten Traumwelt von einer Vergangenheit, die sie selbst nie erlebt hat, kann die schnöde, kalte Gegenwart nicht mithalten. Aber dann passiert etwas Zauberhaftes.

Ein altes James-Bond-Poster ist der erste Hinweis für die Heldin, dass hier kein Happy End auf sie wartet

Eloise flieht vor ihrer Mitbewohnerin aus dem Studentenwohnheim und findet Zuflucht als Untermieterin bei einer alten Dame. Deren Haus sieht so aus, als sei es in den Sechzigern für die Ewigkeit konserviert und seitdem nie mehr renoviert worden. Als Eloise sich abends ins knarzende Bett legt und einschläft, wacht sie plötzlich im wilden Soho der Sechzigerjahre auf, wo die glitzernden Neonreklamen des West End so schön leuchten, wie man es sich kaum vorzustellen vermag. Im elegantesten Nachtclub der Stadt, dem Café de Paris, erblickt sie im Spiegel eine junge Frau, die eine lässige Traumausgabe ihrer selbst sein könnte, mit den platinblonden Haaren und dem gewagten Hüftschwung. Die Frau (Anya Taylor-Joy) scheint eine Art Jekyll & Hyde-Abbild von ihr zu sein, in der Glamourvariante. Mal blickt sie Eloise im Spiegel entgegen, als sei sie sie selbst; mal kann Eloise sie wie eine Sitznachbarin beobachten.

Mit ihr und neben ihr schnappt sie sich den verwegensten Gentleman des Nachtclubs und fliegt mit ihm über die Tanzfläche, als hätte sie ihr Lebtag nichts Anderes getan. Was für ein Traum! Oder war es gar kein Traum? Der Knutschfleck, den der Gentleman ihrem Traum-Avatar zu verboten später Stunde verpasst, ziert nach dem Aufwachen auch Eloises Hals ...

Last Night in Soho (Film Still)

"Ich trinke einen Campari Soda, Darling": Diana Rigg in "Last Night in Soho".

(Foto: Parisa Taghizadeh/Universal)

Der britische Regisseur Edgar Wright ist selbst ein begeisterter Fan des goldenen Londons der Sechzigerjahre. Er hat für "Last Night in Soho" sogar extra eine Figur geschrieben, um seinem Lieblingsidol jenes Jahrzehnts eine Gastrolle anbieten zu können: Die Sixties-Ikone Diana Rigg, die in der Kultserie "Mit Schirm, Charme und Melone" berühmt wurde und "Im Geheimdienst Ihrer Majestät" das tragischste Bond-Girl der 007-Geschichte war, spielt für ihn die geheimnisvolle alte Vermieterin, bei der seine Hauptfigur Eloise unterkommt.

Rigg verstarb kurz nach den Dreharbeiten, und Wright hat ihr im Guardian ein wunderschönes kleines Adieu geschrieben. Sie sei es gewesen, die ihn in die richtige Stimmung für sein Sixties-Projekt gebracht habe, weil sie den Zauber jener Zeit nicht nur bezeugt, sondern immer noch verkörpert habe. Bei ihrem ersten Treffen in der legendären Berners Tavern habe sie ihn sofort standesgemäß begrüßt: "Ich trinke einen Campari Soda, Darling - nimmst du auch einen?"

Edgar Wright ist ein passionierter Genre-Mixer. Er hat unter anderem die Horrorkomödie "Shaun of the Dead" und das Gangster-Musical "Baby Driver" gedreht. Auch "Last Night in Soho" ist nicht nur ein eleganter Nostalgietrip, sondern ein Horrorthriller über die Untiefen der Träume, die wir nachts träumen, und die sich in Sekundenschnelle vom Wunsch- zum Albtraum wandeln können.

Dass die Bettflucht in die Sixties kein Happy End für die Heldin bedeutet, zeigt sich schon früh an den vielen kleinen Anspielungen auf die Horrorfilmgeschichte, die Wright in den Film einbaut wie düstere Vorzeichen, von "Suspiria" über "Wenn die Gondeln Trauer tragen" bis zu Roman Polanskis "Ekel".

In den Hinterzimmern des Café de Paris wird der Glamour der Sixties schnell brüchig

Das gigantische Poster, das über dem alten Kinopalast leuchtet, als Eloise zu ihrem ersten nächtlichen Sixties-Ausflug aufbricht, wirbt für den Film "Feuerball". Das Plakat zum vierten James-Bond-Film mit Sean Connery verrät nicht nur das Jahr, in dem diese Traumsteifzüge angesiedelt sein könnten - 1965 - , sondern ist ebenfalls ein kleiner Hinweis, dass dieser Traum vom Swinging London auch einen Albtraum birgt. Auf dem "Feuerball"-Poster räkeln sich ein paar devote Bikinimädchen zu Füßen des Geheimagenten. Dass die Sechzigerjahre neben ihrem verklärten Glamour für eine junge Frau vor allem auch ein sehr devot definiertes Rollenbild bereithalten, das dem Willen der Männer untergeordnet wird, lernt Eloise bei ihren nächsten Traumausflügen.

Ihre Traumdoppelgängerin gerät in den Hinterzimmern des Café de Paris, wo der Glamour brüchig wird, in einen Strudel aus Missbrauch und Misogynie. Und Eloise wird an ihrer Seite Zeuge eines Mörders, der sie auch im Wachzustand in der Gegenwart zu verfolgen beginnt.

Wright und seine Koautorin Krysty Wilson-Cairns (übrigens eine der besten Drehbuchautorinnen der jüngeren Generation, die für ihr Skript zu "1917" bereits für den Oscar nominiert wurde) dürften für ihren Film nochmal kräftig in der Sigmund-Freud-Gesamtausgabe geschmökert haben. Ihr "Last Night in Soho" ist auf jeden Fall die aufregendste Traumdeutung dieses Kinojahres.

Last Night in Soho, GB 2021 - Regie: Edgar Wright. Buch: Krysty Wilson-Cairns, Edgar Wright. Kamera: Chung-hoon Chung. Mit: Thomasin McKenzie, Anya Taylor-Joy, Matt Smith. Universal, 116 Minuten. Kinostart: 11. November 2021.

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