Süddeutsche Zeitung

Klassikkolumne:Weihnachtsmusik fürs ganze Jahr

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Chormusik klingt für viele von Haus aus weihnachtlich. Umgekehrt kann weihnachtliche Instrumentalmusik plötzlich an den Frühling erinnern.

Von Helmut Mauró

Diese Weihnachtsmusik kann man das ganze Jahr über hören. Denn erstens singt hier niemand von Weihnachten, denn es singt überhaupt niemand, und zweitens handelt es sich hier um großartige barocke Instrumentalmusik, wie sie in ihrer glanzvollsten Zeit an den glamourösesten Orten geschrieben gespielt wurde. Also in Rom, Bologna, Venedig und Florenz. Dort entstand die meiste Musik von Arcangelo Corelli, Giuseppe Torelli, Antonio Vivaldi, Francesco Manfredini und Pietro Locatelli. Letzterer jedoch, so vermuten Fachleute, könnte die meisten seiner Concerti Grossi aber auch auf seinen umfangreichen Reisen komponiert haben, die ihn unter anderem nach München, Dresden, Berlin, Frankfurt am Main und Kassel führten. Der Cembalist Lars Ulrik Mortensen hat alle diese teils opulenten Meisterwerke mit dem Concerto Copenhagen so vielfarbig und federnd leicht aufgenommen (Naxos), dass man beim Hören eher an den kommenden, sicherlich fröhlichen Frühling denkt als an das bevorstehende dunkle Corona-Weihnachten.

Inzwischen ist er 79 Jahre alt. Der spanische Gambist, Musikwissenschaftler und Dirigent Jordi Savall hat die Originalklangbewegung inspiriert, ermuntert, mitgeprägt, hat dabei seinen eigenen Weg verfolgt. Der führte immer geradewegs zum Kern der Musik. Besser gesagt: Alles, was Jordi Savall anpackte, kam vom praktischen Musizieren her, von der Lust an der melodischen Erzählkunst, an instrumentalen Klangfarben, am gesanglichen Epos, an allem, was unmittelbar mit musizierenden Menschen und ihrer künstlerischen Gemeinschaft zu tun hatte. Jetzt hat er die Tragédie lyrique "Alcione" von Marin Marais aufgenommen (Alia Vox), dem großen Gambistenkollegen und Komponisten des ausgehenden 17. und angehenden 18. Jahrhunderts. Marais hat mit dem berühmteren Jean-Baptiste Lully am Hof von Versaille musiziert und wurde von diesem sehr geschätzt, auch vom Sonnenkönig und dem legendären Kontrollminister Colbert, und Jean Jacques Rousseau hebt ihm in seinem Traité de Viole ausdrücklich hervor. Zunächst wirkt die Musik etwas schablonenhaft, aber nach und nach entwickeln sich nicht nur die Rezitative, sondern auch die Chornummern zu höchst lebendigen Dramoletten.

Es ist immer wieder überwältigend, reine Vokalmusik aus der Blütezeit des 15. und 16. Jahrhunderts zu hören, wie etwa Motetten von John Sheppard, zum Teil in Ersteinspielung (LINN/outhere). Ein Grund dafür ist ein ganz formaler. Das Stück beginnt mit einer einstimmigen Melodie, die in verschiedene Stimmlagen wandert, während die ursprüngliche eine komplementäre Melodie schafft. So fächert sich der Klang immer weiter auf und baut sich quasi seine eigenen kathedralartigen Räume. Und es klingt tatsächlich authentischer, wenn ein Chor zugange ist, der in nahezu ungebrochener Tradition von der Zeit der Komposition bis heute zu Werke geht. Der Choir of New College Oxford ist einer dieser im Aussterben befindlichen englischen Kathedralchöre, die noch in Originalbesetzung agieren und so eine Homogenität des Klanges erreichen, wie sie andernfalls nicht zu bekommen ist. Typisch dafür: die Balance von individuellem Stimmklang und Gesamtakustik. Das eine sollte nie auf Kosten des anderen erzwungen werden. Chorleiter Robert Quinney zelebriert dies in Perfektion.

Es beginnt mit den vier schweren Akkorden von Franz Schuberts "Der Tod und das Mädchen". Der Prophet Elias stemmt sich gegen die Vielgötterei im Nordreich Israel und insbesondere gegen den Kult um den Gott Baal. Eine düstere alttestamentarische Geschichte, die auf große Soloauftritte und noch eindrucksvollere Chorszenen hoffen lässt. Felix Mendelssohn Bartholdy erfüllt 20 Jahre nach Schuberts Liedkomposition in seinem Oratorium " Elias" alle diese Wünsche. Dirigent Otto Kargl führt die Capella Graz, die Domkantorei St.Pölten, das ausgezeichnete L´Orfeo-Barockorchester sowie ein anspruchsvolles Solistenensemble siegesgewiss über Berge und Täler der Partitur (ORF). Dies zudem wirklich oratorienhaft, das heißt dramatisch inspiriert, musikalisch fast szenisch. Man wandert mit und leidet mit, marschiert durch Wüsten, sucht nach Wasser und fürchtet Feuer, Teufel und Gott. Aber dann kommt das Schlussquartett "Wohlan alle, die ihr durstig seid". Es gibt was zu trinken. Gottseidank. Nicht dafür, aber die Musik ist herrlich.

Anton Bruckner einmal etwas weniger wuchtig. Trotz des aufwändigen Orchestereinsatzes. Der Chor steht im Mittelpunkt, manchmal plötzlich eine Trompete oder eine dunkelwarme Tuba, selten düster bedrohlich, eher fatalistisch befreiend. Das Collegium Vocale Gent und das Orchestre des Champs-Elysées ziehen Bruckners ins Bombastische lappende e-Moll-Messe immer wieder aus dem drohenden Klangwust (PHI/outhere), zerren sie ans fromme Tageslicht zur Ergötzung nicht nur der eher depressiven Gemüter. Das bleibt noch immer eine enorme Anstrengung, denn bei Lichte besehen ist diese Partitur nicht weniger opulent und mit- und hineinreißend. Aber nun, unter der strengen Leitung des Alte-Musik-Meisters Philippe Herreweghe, weht ein eisig klarer Wind durch die Partitur. An manchen Stellen kann man es knistern hören, da bilden sich Kristalle. Diamantklare, lichtbrechende Molekularmonster. Helmut Mauró

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